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Kastrationsangst? – Warum Frauen Hosen tragen, aber Männer keine Röcke

Dieser Artikel erschien im März 2019 im anarchafeministischen Magazin Nebenwidersprüche Vol. 2, S. 71. Diejenigen, die in diesem Text über für sie unbekannte Begrifflichkeiten stolpern, finden (voraussichtlich) im Glossar der „Nebenwidersprüche“ eine Erläuterung.

Als vor etwas mehr als zehn Jahren an meiner Schule ein „Geschlechtertausch“-Verkleidungs-Motto einen Tag lang Sehgewohnheiten auf den Kopf stellte, musste ich feststellen, dass es als Mädchen ((Ich verwende hier die Geschlechterbezeichnungen jungs und Mädchen, wie ich sie damals verwendet habe und wie ich damals meine Mitschüler*innen wahrgenommen habe. Mir waren damals weder trans noch nicht binäre oder inter Identitäten bekannt. Dass ich sie in diesem Text immer noch verwende, liegt daran, dass es mir in diesem Text um die Geschlechterrollen und die ihnen anhaftenden Kleiderordnungen geht, die bis heute in Feminin und maskulin eingeteilt werden. Dabei sind trans Menschen ebenso Teil meiner Überlegungen, denn auch trans Frauen und männer unterliegen dem Druck, einer bestimmten Kleiderordnung zu folgen, manchmal sogar stärker, da ihnen die Mitglieder unsere Gesellschaft häufig die Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität verweigern (sogenanntes Passing). Ich werde im Verlauf des Textes auch auf Besonderheiten in der Situation von trans Personen eingehen.)) schwieriger war, gender trouble herzustellen, als als junge. Die Aufgabe, mich als junge zu verkleiden, der ich mit Freuden nachkam, gestaltete sich als schwierig. Einfach nur eine Hose anzuziehen machte mich nicht männlicher, auch ein Hemd anzuziehen und sogar eine Krawatte änderten nichts. Ich schminkte mich eh nicht, also konnte ich nicht einmal durch das Nichtschminken mein Aussehen verändern, und mir die Haare abschneiden wollte ich jetzt auch nicht. Die jungs haben es viel leichter, dachte ich damals verärgert und so war es auch: Es war beeindruckend, wie sehr ein kurzer Rock, Nylonstrumpfhosen und etwas Schminke die jungs meiner Klasse veränderte. Was ich damals dabei höchst erstaunlich fand, war festzustellen, wie gut auch jungs Mädchenkleider standen. Diese Erkenntnis machte mich traurig darüber, dass jungs keine gesellschaftlich anerkannte Möglichkeit außer Fasching hatten, z. B. hohe Schuhe und kurze Röcke zu tragen, wenn sie denn Lust darauf hatten, und das, obwohl es ihnen genauso stand. Damals dachte ich mir: „Wir Mädchen sind befreiter als die jungs. Wir können Hosen tragen, ohne dass es irgendwem auffällt. Aber die jungs haben sich das Recht noch nicht erkämpft, einen Rock tragen zu dürfen, dabei sieht es an ihnen genauso gut aus wie an uns die Hosen.“ Grundsätzlich halte ich meine damalige Erkenntnis auch heute noch nicht für falsch. Während Frauen seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten dafür kämpfen, dass die männer anerkennen, dass sie zu denselben Sachen in der Lage sind wie sie, ist es bis heute undenkbar, dass männer dafür streiten, Weiblich Konnotiertes zu leben, zu zeigen und sich aneignen zu dürfen.

Warum aber gibt es – im Gegensatz zur Frauenbewegung – dafür keine relevante Bewegung? ((Dieser Text behandelt das Thema in der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft. Zwar gibt es bestimmt viele Parallelen und Übereinstimmungen mit anderen Gesellschaften und zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, die in Deutschland eine marginalisierte Minderheit sind, ich berücksichtige diese und besonders Unterschiede zu der Situation in der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft in diesem Text aber nicht. Vermutlich lässt sich in den meisten Gesellschaften eine Unterscheidung in Weibliche und in männliche Kleidung feststellen und eine Abwertung der Weiblichen Kleidung in dieser Dichotomie. Jedoch weiß ich dazu leider nicht genug und es bedürfte einer aufwendigen Recherche. Deshalb beschränke ich mich auf meine eigenen Erfahrungen im Herzen der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft.)) Zwar haben Schwulen- und Transbewegungen sowie die Drag(-Queen)-Szene einiges erreicht. ((Auch wenn ironischeweise eine Folge dessen auch ist, dass männer, die Weiblich konnotierte Kleidung tragen und Weiblich konnotierte Verhaltensweisen an den Tag legen, grundsätzlich als schwul, Drag Queen oder trans wahrgenommen werden und dass es für (cis hetero) Menschen unvorstellbar ist, dass cis hetero männer Weibliche Kleidung tragen wollen oder Weiblich Konnotiertes leben wollen könnten. Eine solche Verknüpfung ist in unserer homo-, trans- und queerfeindlichen Gesellschaft natürlich auch nicht förderlich, damit cis hetero männer es wagen bzw. überhaupt den Wunsch verspüren, dafür zu kämpfen, sich Weiblich Konnotiertes anzueignen oder zumindest grundsätzlich Weiblich Konnotiertem mit mehr Wertschätzung gegenüberstehen.)) Doch im Gegensatz zur Frauenbewegung, die dafür gekämpft hat, dass alle Frauen Hosen tragen dürfen und dieses Recht inzwischen selbstverständlich im Mainstream verankert ist ((Natürlich gibt es da Ausnahmen. Besonders auf Festen, auf denen ein eleganter Kleidungsstil erwartet wird, ist der Druck, ein Kleid oder einen Rock anzuziehen, extrem hoch und es ist äußerst unüblich, eine Hose zu tragen (z.B. als Braut auf einer Hochzeit). Während es für Frauen allerdings unüblich ist eine Hose zu tragen, ist es für männer undenkbar, ein Kleid zu tragen, und wenn doch wer es mal tut, dann wird es in den allermeisten Fällen als skandalös bis untragbar betrachtet werden.)), gibt es ein solches Recht für männer nicht und auch keine Bewegung, die sich dafür einsetzt. Wieso haben die meisten männer kein Bedürfnis danach, einen Rock zu tragen, während Frauen so hart dafür gekämpft haben, Hosen anziehen zu dürfen? Sind Hosen wirklich so viel praktischer als Röcke, haben Hosen einfach das Zeug zum „neutralen“ Kleidungsstück im Gegensatz zu Röcken und Kleidern? Wohl kaum. Schließlich gibt es mehr als genug Gesellschaften auf dieser Erde, in denen männer Röcke und Kleider tragen, die als männliches Kleidungsstück gelten, und das, weil sie praktisch sind oder gut aussehen. ((Was natürlich nicht heißt, dass, nur weil in diesen Gesellschaften bestimmte Kleider und Röcke männerkleidung sind, eine Abwertung Weiblicher Kleidung, um die es in diesem Text gehen soll, nicht stattfindet.))

Meine These dazu ist, dass der große Unterschied zwischen Frauen, die Hosen, und männern, die Kleider und Röcke tragen wollen, ist, dass es für Frauen anmaßend war, eine Hose zu tragen, während es für männer eine Demütigung war und ist, einen Rock oder ein Kleid anzuziehen. Während sich Frauen die Teilnahme an einem Privileg erstritten haben, wäre es für männer eine Erniedrigung. Als Mann Frauenkleidung zu tragen, ist peinlich. Dass Frauenkleidung jedoch auch allgemein nicht den gleichen Wert wie männerkleidung hat, erleben besonders trans Frauen deutlich. Während trans männer zwar auch Diskriminierung erfahren, wird es ihnen äußerst selten passieren, dass sie für die Kleidung, die sie tragen, verspottet werden. Bei trans Frauen allerdings ist das alltäglich. ((Dieses Phänomen wird Transmisogynie genannt und ist eine intersektionale Diskriminierungsform.))

Jedoch ist nicht nur das Tragen von Frauenkleidung für einen Mann beschämend: „Effeminiert“ ist bis heute ein Schimpfwort für männer, die Weibliche Verhaltensweisen an den Tag legen oder ihren Körper auf eine Weibliche Art und Weise gestalten. Frauen haben sich erkämpft, dass sie nicht mehr so stark darauf achten müssen, ja nicht (zu) männlich aufzutreten. Dass das aber auch eher verziehen werden konnte als umgekehrt, hängt auch damit zusammen, dass männlichkeit im Gegensatz zu Weiblichkeit grundsätzlich positiv konnotiert ist und als erstrebenswert betrachtet wird. So musste auch ich als cis Mädchen eher aufpassen, mich meinem Vater gegenüber nicht zu sehr „wie ein Mädchen“ zu verhalten ((Fairerweise muss ich hier anmerken, dass dieser Vorwurf teilweise im Kontext seiner leider fehlgeleiteten Versuche fiel, mich „geschlechterneutral“ zu erziehen, also auch mit mir „jungssachen zu machen“. Wenn ich dann nicht begeistert reagierte, wurde er gerne ungeduldig und warf mir dann vor zu Mädchenhaft zu sein. Jedoch erntete ich diesen Vorwurf auch immer dann, wenn ich Dinge nicht so machte, wie er es wollte oder etwas nicht begriff oder nicht hinbekam oder wenn ich weinte.)) – also weder „wie ein Mädchen“ Steine zu werfen oder „wie ein Mädchen hysterisch herumzukreischen“ als darauf zu achten, nicht zu selbstbewusst oder zu mutig oder halsbrecherisch oder übermütig zu sein. Natürlich hat diese positive Bezugnahme auf männliches bei Frauen ihre Grenzen, sonst wären Beleidigungen wie „mannsWeib“, „Emanze“ oder „Kampflesbe“ inzwischen aus der Mode – was sie beileibe nicht sind. Während ich also gleichzeitig darunter litt, einem von mir wahrgenommenen Ideal von Weiblichkeit nicht zu entsprechen, als auch versuchte, ja nicht zu Mädchenhaft zu sein und eine gewisse Form von Weiblichkeit verachtete, mussten die jungs in meiner Klasse interessanterweise ähnliches: nämlich ja nicht „schwul“ wirken. Dabei ist meiner Meinung nach gemeint, nicht Mädchenhaft zu sein beziehungsweise Weiblich aufzutreten. ((Denn Schwulenbewegungen haben gängige männlichkeitsideale schon immer auch auf den Kopf gestellt (allein dadurch, dass als mann einen mann zu begehren, bereits unmännlich war). Außerdem war und ist die Aneignung Weiblich konnotierter Verhaltensweisen und Körpergestaltungen schon immer Teil schwuler Kultur. Hier greifen Misogynie und Homofeindlichkeit ineinander.)) Anders gesagt: Frauen kann mann Weibliches Verhalten gerade noch verzeihen, die können halt nicht anders. Männern jedoch wird dieser Bonus nicht zugestanden. Mehr als das, Weibliche Züge an den Tag zu legen, bedeutet auch, seine männlichkeit zu verlieren, und das ist offensichtlich nichts Gutes. Wäre Weiblichkeit erstrebenswert oder genauso positiv konnotiert wie männlichkeit, müssten sich männer nicht so davor fürchten.

Freud hat in seiner Analyse zur Kastrationsangst und zu seiner Konstruktion eines angeblichen „Penisneides“ die Verachtung alles Weiblichen unserer patriarchalen Gesellschaft unbewusst perfekt auf den Punkt gebracht – auch wenn das nicht seine Intention war: Frauen sind seiner Meinung nach kastrierte männer und beneideten deshalb männer um ihren Penis und seien psychisch fragiler. Männer wiederum hätten Angst vor der Kastration, weil sie dann genau das würden, was Frauen durch Geburt bereits seien. ((Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Penisneid. Eine sehr unterhaltsame feministische Auseinandersetzung mit Freuds Penisneid findet sich bei Luce Irigaray: Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts (1974), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980.)) Bleiben wir in dieser Metapher, könnte mensch sagen, dass Frauen sich durch das Tragen von Hosen einen Penis erstritten haben, während männer nur die Kastration erwartet, wenn sie für das Recht auf das Tragen von Röcken und Kleidern kämpfen. Die Verachtung alles Weiblichen, die Freud bereits vor circa 100 Jahren aus Versehen entlarvt hat, hat bis heute ihre Gültigkeit bewahrt und ist immer noch tief in unserer Gesellschaft verankert. ((Übrigens auch in der feministische Szene, in der es oft durch die Auflehnung gegen eine aufgezwungene Geschlechterrolle zu einer Abwertung alles Femininen und einer Verklärung des maskulinen gekommen ist und immer noch oft kommt. In dieser Logik wird dann häufig männliche Kleidung und männliches Verhalten als neutral und gut betrachtet, während Dinge, die mit Weiblichkeit konnotiert sind, als aufgesetzt und künstlich und als das betrachtet werden, das Frauen daran hindert, frei zu sein.)) Wer nun als gelesener Mann ((Wer Mann ist, bleibt dabei der Zuordnung von außen vorbehalten. Menschen werden also diesem Club automatisch entweder als zugehörig oder als nicht zugehörig zugeordnet.)) es wagt, Weiblichkeit zu zeigen, verstößt gegen die männliche Etikette und büßt seinen männlichkeitsstatus ein, er*sie wird aus dem männerclub verstoßen. Damit verlässt er*sie die geschützte Sphäre privilegierter männlichkeit und gehört fortan zum Kreis derer, die gefährdet sind, Opfer von Übergriffen durch männliche männer zu werden. Wer also dazugehören will zu dieser Clique, muss einen hohen Preis zahlen: die Bekämpfung und Unterdrückung jeglicher Weiblichkeit bei einem selbst und bei anderen der männerclique zugeordneten Menschen sowie die Verachtung gegenüber allen, die der Clique nicht angehören. Oder freudsch ausgedrückt: den Schutz des Penisses vor Kastration um jeden Preis.

Von eingeimpften Wanzen und den Söhnen Satans

Antisemitismus und Verschwörungstheorien in den Texten der Rapperin Keny Arkana

Eine Nachrichtensendung im Fernsehen. Es wird von Ausschreitungen berichtet, von Krawallen und Demonstrationen. In dem Moment, in dem ein selbsternannter „Experte“ sich anschickt, das Phänomen dieser „aufständischen Bewegung“ zu erklären, übernimmt ein Pirat*innensender das Signal. Zu sehen sind viele vermummte Personen, von denen eine am Mikrofon sitzt. Diese gibt sich als Teil der Bewegung zu erkennen, von der gerade berichtet wurde, und beginnt sich zu erklären. Verzweifelt versucht der Nachrichtensender, die Kontrolle über das Signal wiederzuerlangen, irgendwann schafft er es auch, doch bis dahin haben die Rebell*innen bereits ihre gesamte Botschaft übermittelt.

„V wie Vendetta“ reloaded

Großes Kino im Musikvideo „V pour Vérités“ der französischsprachigen Rapperin Keny Arkana, und der Titel des Liedes erinnert nicht zufällig an den Film „V wie Vendetta“ (im Französischen „V pour Vendetta“) ((Für alle, die den Film nicht kennen, eine kurze Zusammenfassung (ACHTUNG SPOILER!): In einem faschistisch regierten England der Zukunft kämpft ein einzelner Mensch namens V aus persönlichen Rachemotiven heraus gegen das faschistische Regime. Dessen Mitglieder hatten, bevor sie an die Macht kamen, unter einem falschen Namen Terroranschläge mithilfe von Viren verübt, um dann als Regierung direkt ein Heilmittel präsentieren zu können und damit das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. V war ein Versuchskaninchen gewesen, an dem sie das Heilmittel für den Virus getestet und entwickelt haben. Viele Jahre später, als sich das Regime bereits gut etabliert hat, hackt er sich in den Notfallsender der Regierung ein, prangert in einer Videobotschaft an das gesamte Land das faschistische Regime an und ruft die Leute auf, in einem Jahr vor dem Parlament zu demonstrieren. Nebenbei rettet er noch eine Frau vor einer Vergewaltigung und foltert sie dann, damit sie ihre Ängste überwindet. Sie wächst voll an dieser Folter und verliebt sich in ihn. Er stirbt dann irgendwie, nachdem er alle Mitglieder der Regierung umgebracht hat und sie sprengt das Parlament an dem Tag in die Luft, an dem V die Leute dazu aufgerufen hatte, sich vor dem Parlament zu versammeln, was viele maskiert auch tun und der Sprengung dadurch zusehen können. Ein neues Zeitalter bricht dadurch an.)) . „V pour Vérites“, zu deutsch „W wie Wahrheiten“, will „Wahrheiten“ aufdecken. Die Rebell*innen erklären sich selbst, überlassen nicht den Medien die Erklärung des Geschehens. So weit so gut. ((Also eigentlich nicht, weil ich eine positive Bezugnahme auf diesen Film äußerst schwierig finde (meine Zusammenfassung in Fußnote 1 lässt vielleicht bereits erahnen wieso), aber das soll hier jetzt gar nicht meine Kritik sein und muss einem anderen Artikel überlassen bleiben.)) Doch lauschen wir der Rebellin am Mikro – natürlich Keny Arkana –, was sie anzuprangern hat:

Mesdames et messieurs, ne croyez pas que les gouvernements vous protègent
Ils se préparent le terreau hors-pair du plus grand génocide
La famine dans les pays riches, répression, mais aussi
Des épidémies, peut-être pour qu’on ait peur de se rassembler
Ou juste pour biznesser un tas de vaccins empoisonnés
Peut-être avec une puce dedans, serait-ce pour la surveillance?
Ou pour modifier nos états psychiques à l’aide de leurs fréquences
L’Occident construit des camps, l’Europe s’apprête à réinstaurer la peine de mort
Spécialement pour les insurgés ((Alle Lyrics habe ich von genius.com.))

[Meine Damen und Herren, glauben Sie nicht, dass die Regierungen Sie beschützen
Sie bereiten den Boden für den größten Völkermord
Hungersnot in den reichen Ländern, Repression, aber auch
Epidemien, vielleicht, damit wir Angst haben, uns zu versammeln
Oder auch nur, um einen Haufen vergifteter Impfstoffe zu verkaufen
Vielleicht mit einer Wanze darin, dient diese der Überwachung?
Oder um unser seelisches Gleichgewicht mithilfe ihrer Frequenzen zu verändern
Der Westen baut Lager, Europa bereitet sich vor die Todesstrafe wieder einzuführen
Insbesondere für die Aufständischen] ((Alle Übersetzungen vom Französischen ins Deutsche sind von mir.))

Ich fasse noch einmal zusammen: Keny Arkana warnt also davor, dass „die Regierungen“, „der Westen“ und „Europa“ eine „Hungersnot“ in den „reichen Ländern“ vorbereiten, dass sie „Epidemien“ in die Welt setzen, um – vielleicht, ganz sicher ist sie sich nicht – die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten. Vielleicht auch nur, um mit Impfstoffen, die allerdings „vergiftet“ sind, Geld zu machen. Möglicherweise ist in diesen Impfstoffen aber sogar eine „Wanze“, um Menschen zu überwachen, die aber auch „Frequenzen“ von sich geben könnten, die unsere „seelisches Gleichgewicht“ verändern sollen. „Wahrheiten“ sind es wohl noch nicht ganz, schließlich ist noch nicht sicher, warum Epidemien ausgelöst werden, aber dass das passiert, ist ihrer Aussage nach sicher.

Wer jetzt glaubt, dass Keny Arkana eine Vertonung von „V wie Vendetta“ vorgenommen hat – zur Erinnerung (VORSICHT SPOILER): im Film führt das neofaschistische Regime vor seiner Wahl als Terrorgruppe verkleidet Virenangriffe aus, um die Leute so zu verängstigen, dass sie die nächste Wahl gewinnen –, irrt, denn Keny Arkana prangert, wie wir später sehen werden, solch ein Vorgehen auch in anderen Liedern an. Eher hat mensch den Eindruck, dass sie diesen Film zu ernst genommen hat und mit der Realität verwechselt. Es ist sogar in höchstem Maße gruselig, wie sehr ihre Kritik an Kapitalismus und Faschismus Überschneidungen mit diesem Film aufweist. Dass das so ist, überrascht allerdings nicht, denn der Film wie auch Keny Arkanas Kapitalismuskritik stehen in Tradition antisemitischer Verschwörungstheorien. Doch zu Keny Arkanas Kapitalismuskritik später mehr.

Die Bedeutung Keny Arkanas für die linke Bewegung

Denn bevor wir tiefer in die Gedankenwelt Keny Arkanas eintauchen, möchte ich diese Rapperin kurz ein wenig genauer vorstellen ((Alle Informationen zu ihrer Biografie habe ich aus folgenden Quellen: https://blogs.mediapart.fr/lancetre/blog/100618/keny-arkana-la-rage-du-peuple-au-coeur, https://de.wikipedia.org/wiki/Keny_Arkana, https://fr.wikipedia.org/wiki/Keny_Arkana und https://www.keny-arkana.com.)) und erklären, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, mich mit ihr auseinanderzusetzen.

Keny Arkana stammt aus der Marseillaiser Banlieue und hat rassistische Ausgrenzung und Bullengewalt seit ihrer Kindheit erlebt. Mit zwölf begann sie zu rappen, mit 17 brachte sie ihr erstes Album heraus. Inzwischen hat sie zehn Alben veröffentlicht. Ihre Tracks haben auf youtube sechs- bis siebenstellige Views. „V pour Vérités“ wurde über 7 Millionen mal angeschaut. Ihre Konzerte sind ausverkauft, mehrere zehntausende Menschen strömen zu jedem Konzert. Auch in linken bis linksradikalen Kontexten ist sie ein willkommener Gast: Bei der ZAD in Notre-Dame des Landes, einem damals besetzten Flughafengelände in Frankreich, gab sie 2013 ein umjubeltes Konzert vor Zehntausenden. ((Vgl. https://libertesconquises.blogspot.com/2013/01/keny-arkana-la-zad.html.)) 2018 trat sie in Deutschland beim beliebten von linksradikalen Gruppierungen organisierten Fusion Festival auf. Keny Arkana ist eine musikalische Hausnummer in linksalternativen und linksradikalen Milieus und erfreut sich einer wachsenden Beliebtheit. Und das ist überaus besorgniserregend.

Im Programm des letztjährigen Fusion Festivals wird Keny Arkana auf folgende Art und Weise vorgestellt: „Sie drückt mit ihren politischen Texten und klassischen Hip Hop Beats Zorn über Kapitalismus, Faschos und die Gesamtscheiße auf den wunden Punkt [sic!].“ ((Vgl. https://www.fusion-festival.de/2018/programm/band/.)) Auch der deutsche Wikipedia-Eintrag beschreibt sie als eine Rapperin, die “ klar Stellung gegen Kapitalismus, Faschismus und Globalisierung“ ((Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Keny_Arkana.)) beziehe. Dass sie das tut, steht außer Frage. Doch die Art und Weise, auf die sie das tut, wird nicht weiter ausgeführt, Kritik an ihr finde ich sowieso fast keine. Dabei sind ihre Texte hochproblematisch.

„Désobéissance“ – Ungehorsam und die Freimaurer*innen

Einen kleinen Einblick in ihre Kapitalismus-, Faschismus- und Staatskritik habt ihr vorhin schon bekommen. Lasst uns noch etwas tiefer in ihre Welt eintauchen!

Ausschnitt aus der US-amerikanischen 1$-Note

Widmen wir uns einem Album von Keny Arkana, „Désobéissance“ (dt: „Ungehorsam“). Auf dem Cover dieses Albums findet sich ein interessantes Bild: Ein Ausschnitt aus der US-amerikanischen 1-Dollar-Note. Darauf ist eine unvollständige Pyramide zu sehen, über der ein Auge in einem Dreieck schwebt, das so genannte „Auge der Vorsehung“. Dieses Motiv sorgt bei Verschwörungstheoretiker*innen für heftige Spekulationen, denn das Auge der Vorsehung ist unter anderem ein Motiv der Freimaurer*innen – eine Vereinigung, die Verschwörungstheoretiker*innen gerne als eine Gruppe sehen, die im Hintergrund die Geschicke der Welt lenkt. Das Motiv der Pyramide mit dem Auge der Vorsehung darüber verwendet Keny Arkana auch in einem Musikvideo zu dem Lied „La rage“ (dt: „die Wut“), in dem das Bild dieser Pyramide eingeblendet wird, um dann herauszuzoomen, bis ein 1-Dollar-Schein zu sehen ist. ((Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=oewRadlyrHo, 2:44 ff.)) Dabei erzählt Keny Arkana davon, dass „die Elite unserer Staaten reich an Wahrheiten [sei], mit denen man die Menschheit verändern könnte“ und diese lieber für sich behalte, um „uns wie ihre Maschinen manipulieren zu können“ ((La rage, trop de mensonges et de secrets gardés
L’élite de nos Etats, riche de vérités pouvant changer l’humanité
La rage car ils ne veulent pas que ça change, hein
Préférant garder leur pouvoir et nous manipuler comme leurs engins

[Die Wut, zu viele Lügen und Geheimnisse
Die Elite unserer Staaten, voller Wahrheiten, die die Menschheit verändern könnten
Die Wut, weil sie nicht wollen, dass sich irgendwas verändert, nicht wahr?
Sie wollen lieber ihre Macht behalten und uns wie ihre Maschinen manipulieren].)). Zwar erwähnt sie die Freimaurer*innen nicht. Jedoch gibt es offenbar eine Elite, die Dinge geheim hält, um „uns“ weiter manipulieren zu können. Jetzt werden einige einwenden, dass es schließlich Erfindungen und Entdeckungen gibt, die von Konzernen zurückgehalten und unterdrückt werden, damit sie selbst sich auf dem Markt besser halten können. Das stimmt, das gibt es. Jedoch ist es immens wichtig, auf welche Art und Weise ich eine Kapitalismuskritik formuliere und welche Bilder und Metaphern ich verwende, damit sie weiterhin differenziert bleibt und nicht verschwörungstheoretischen und damit zumeist auch antisemitischen Charakter bekommt.

Der Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Antisemitismus

Bevor wir uns also weiter mit Keny Arkanas Texten beschäftigen, hier eine kleine Einführung in die Welt von Verschwörungstheoretiker*innen und darin, was diese Ideen und Überzeugungen mit Antisemitismus zu tun haben:

Verschwörungstheorien zeichnen sich dadurch aus, dass Menschen der Überzeugung sind, dass gewisse geschichtliche Ereignisse aufgrund der Verschwörung einer geheim operierenden Gruppe zustande gekommen sind oder dass welche von solch einer Gruppe inszeniert wurden. Berühmte Beispiele sind die Theorien, die Mondlandung sei nur im Filmstudio gedreht worden, dass John F. Kennedy im Auftrag der US-amerikanischen Regierung ermordet wurde oder das Attentat auf das World Trade Center ebenfalls von den USA selbst in Auftrag gegeben wurde. Nicht alle Verschwörungstheorien müssen falsch sein. Ab und zu hat eine geheim operierende Gruppe, zum Beispiel Geheimdienste ((Das steckt ja schon in ihrem Namen…)) bei etwas ihre Finger im Spiel. Jedoch ist naturgemäß sehr schwer herauszufinden und zu beweisen, ob tatsächlich eine „Verschwörung“ im Gange war. Ebenso schwer ist es, Menschen, die von der Existenz einer Verschwörung zu einem Vorfall überzeugt sind, das Gegenteil zu beweisen, denn wer an eine Verschwörung glaubt, wird auch glauben, dass Leute, die diese Verschwörung leugnen, entweder Teil derselben sind oder dass sie auf die Lügen der Verschwörer*innen hereingefallen sind. Problematisch wird es dann, wenn Menschen der Meinung sind, alles oder sehr vieles sei Resultat einer gigantischen Verschwörung. Hier kommen die Freimaurer*innen wieder ins Spiel. Eine sehr beliebte und alte Verschwörungstheorie ist diejenige, dass eine kleine geheime Gruppe im Hintergrund die Geschicke der Menschheit lenkt und zu ihrem Vorteil beeinflusst. Das können Freimaurer*innen sein, die Bilderberger Ḱonferenz, die Rothschilds, die Rockefeller Familie, die Weltbank oder der CIA. Oder allgemeiner Jüd*innen – bzw. heutzutage ist meistens eher von „Zionist*innen“ die Rede. Und hoppla, allerspätestens da sind wir beim Antisemitismus. ((Wer sich die klassischen Gruppen anschaut, denen eine geheime Weltherrschaft unterstellt wird, wird natürlich bereits dort feststellen, dass sehr viele jüdische Menschen dabei sind, z. B. die Rothschild-Familie, James David Wolfensohn, Alan Greenspan oder George Soros. Außerdem gibt es viele NWO-Verschwörungstheoretiker*innen, die von einer explizit jüdischen Weltverschwörung ausgehen.)) Ihr habt bestimmt schon von der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ gehört, die die Nationalsozialist*innen erfunden haben, um ihre Verfolgung und Ermordung von Jüd*innen zu rechtfertigen. Im Gegensatz zu Rassismus konstruiert der Antisemitismus, dass Jüd*innen eine „unmenschliche, böse Elite“ seien, die zu Unrecht über die anderen „menschlichen, guten Menschen“ herrschen und sie ausbeuten. Da viele Jüd*innen historisch und aus antijudaistischen Gründen bedingt Finanzgeschäfte betrieben, wurden Banken und das Zinsgeschäft  – und die Jüd*innen als ihre angeblich „natürlichen“ Urheber*innen davon – zum Ursprung allen Übels erklärt. Der Nationalsozialismus war scheinbar antikapitalistisch und sah die Jüd*innen – als sogenanntes „raffendes Kapital“ – als die Elite an, die die „guten deutschen Arbeiter*innen“ – das sogenannte „schaffende Kapital“  ((Vgl. z. B. Gottfried Feder: Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes. und https://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Feder und https://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalismuskritik#Nationalsozialistische_und_spätere_rechtsextreme_Kapitalismuskritik.)) – aussaugte und wie ein Krake die ganze Welt in ihren Fängen hielt. ((Wer einen Einblick in die Verbindungen von Esoterik, Verschwörungstheorien aller Art und Antisemitismus bekommen will, der*dem kann ich wärmstens den Dokumentarfilm „Die Mondverschwörung“ von Thomas Frickel ans Herz legen!))

Keny Arkanas Antikapitalismus und seine verschwörungstheoretischen Elemente

Die neue Weltordnung

Wie ihr seht, ist Antikapitalismus nicht notwendigerweise links, und insbesondere Antikapitalismus in Verbindung mit Antisemitismus hat eine lange Tradition. Welche Form von Antikapitalismus vertritt nun Keny Arkana?

Bleiben wir beim Album „Désobéissance“ und wenden uns zwei seiner Tracks zu, „Ordre Mondial“ (dt. „Weltordnung“) und „Désobéissance Civile“ (dt. „Ziviler Ungehorsam“). Bereits der Titel des erstgenannten Tracks lässt stutzen, denn der Begriff „Weltordnung“ ist sehr beliebt unter Verschwörungstheoretiker*innen, meistens in Form der „Neuen Weltordnung“ („New World Order“). Dabei handelt es sich um die Theorie, dass eine geheime Gruppe gerade daran arbeite, diese „Neue Weltordnung“ in Form eines totalitären, globalen Regimes durchzusetzen. ((Vgl. Wikipedia: „New World Order (conspiracy theory)“. https://en.wikipedia.org/wiki/New_World_Order_(conspiracy_theory).)) Bereits auf dem Cover dieses Albums findet sich der Schriftzug „Neue Weltordnung“, unter der Pyramide mit dem „Auge der Vorsehung“, die die Ein-Dollar-Note ziert und die Keny Arkana so wichtig zu sein scheint, dass sie das Motiv auf das Cover ihres Albums packt, auf dem sich auch dieses Lied befindet. Das Lied beginnt mit einer Stimme aus dem Off, wohl ein Zitat:

Les multinationales, c’est eux qui gèrent le monde
Que vous le voulez ou que vous le voulez pas
Ils ont créé une guerre économique

[Die Großkonzerne sind es, die die Welt beherrschen
Ob ihr es wollt oder nicht
Sie haben einen Wirtschaftskrieg erschaffen]

Hier wird bereits suggeriert, dass es eine Weltherrschaft gibt, und zwar eine, die nicht offen als eine solche erkennbar ist. Ähnliches findet sich auch im Track „Désobéissance Civile“ (dt., „ziviler Ungehorsam“), in dem „sie [Großkonzerne und Wachstum] geschworen haben nichts zuzulassen, das ihre Route kreuzt, solange die Diktaturen versteckt sind“ ((Vgl. „Désobéissance Civile“, „Multinationales et croissance ont tracées leurs routes sur nos libertés | Ils ont juré, craché qu’rien n’entravera la leur à l’heure ou les | Dictatures sont cachées“.)) Zurück zu „Ordre Mondial“: Nach dem oben zitierten Intro erzählt ein lyrisches Ich von sich. Es frohlockt darüber, dass „ihr mir ausgeliefert seid“, es „verteidigt das Kapital“, es will alles haben, interessiert sich nur für Zahlen und „kontrolliert euer Bewusstsein mithilfe der Medien“. ((Je défend les capitaux
[…]
Car moi je veux tout répertorier, moi je veux des chiffres et des codes barre
Je contrôle vos esprits par le biais des médias, vous êtes à ma merci

[Ich verteidige das Kapital
[…]
Denn ich möchte alles verzeichnen, ich will Zahlen und Barcodes
Ich kontrolliere euer Bewusstsein mithilfe der Medien, ihr seid mir ausgeliefert].)) Wer ist dieses lyrische Ich? Natürlich „die Weltordnung“ („l’ordre mondial“), eingeführt von „den Mächtigen“ („les puissants“), von „Bruderschaften“ („confréries“) und von Chefs von Großkonzernen („chefs de multinationale“), die alle Nationen heimlich entmachtet hätten, sodass nur noch der Schein „demokratisch“ gewählter Regierungen vorhanden sei. ((Vgl. Anfang der zweiten Strophe.)) In „Désobéissance Civile“ wiederum finden sich Hinweise auf einen geheimen Plan, der noch nicht vollendet sei, jedoch seit „Flugzeuge zerschellt sind“, sich deutlich „beschleunigt“ habe. ((Vgl. „Désobéissance Civile“, „Acclérétation d’leur plan depuis que des avions se sont crashés“.)) Erinnert ihr euch noch an die Verschwörungstheorien, die sich rund um 09/11 ranken? In diesem Lied ist zumindest die Assoziation hin zu diesen Verschwörungstheorien mindestens möglich und sie ist wahrscheinlich auch intendiert. Keny Arkana deutet hier an, dass sich geheime Pläne einer geheimen Wirtschaftselite, dadurch, dass ein paar Flugzeuge zerschellt sind bzw. wörtlich übersetzt „sich zerschellt haben“, deutlich verschnellert hätten, dass ihnen diese Flugzeuge also von hohem Nutzen waren. Weit ist der Schritt nicht mehr, von da auf die Idee zu kommen, dass sie selbst diese Flugzeuge zum Zerschellen gebracht hätten, um ihre Pläne der geheimen wie offenen globalen Weltherrschaft zu beschleunigen. In diesen beiden Liedern werden also (Horror-)Visionen der geheimen Einführung einer „Neuen Weltordnung“ gezeichnet, wie sie von vielen Verschwörungstheoretiker*innen propagiert werden: Nationen sind entmachtet, die ganze Welt ist dem einen Gesetz unterworfen, das einzelne mächtige Personen eingeführt haben. Dabei ist es zwar nicht falsch, dass sich aktuell offenbar der Kapitalismus als Wirtschaftsform erst einmal auch im globalen Maßstab durchgesetzt zu haben scheint. Doch zeichnet Keny Arkana das Bild, dass einzelne Personen aus ihrer verdorbenen Persönlichkeit heraus die Unterwerfung der Welt im Geheimen geplant und inzwischen auch (fast vollständig) vollzogen hätten.

„Das Volk“ vs. „Die Mächtigen“

Damit kommen wir zu der Dichotomie, die grundlegend ist für Keny Arkanas Gesellschaftskritik: die zwischen „den Mächtigen“ auf der einen und „dem Volk“ („le peuple“) ((Der Begriff „peuple“ hat im Französischen nicht die gleiche völkische Konnotation wie das Wort „Volk“ im Deutschen. Im Französischen gibt es kein Pendant zum Begriff „völkisch“. „Peuple“ ist von der Bedeutung dem deutschen Wort „Pöbel“ näher (das etymologisch vom Begriff „peuple“ stammt), bezeichnet also eher die (unterdrückte) Bevölkerung (der niedereren Klassen) als einen „rassischen Volkskörper“.)) auf der anderen Seite. So heißt das Künstler*innenkollektiv, das Keny Arkana 2003 mitgegründet hat und dessen Name als Motto in ihren Musikvideos als Graffity an Wänden oder als Schriftzug auf ihrer Kleidung immer wieder erscheint, „La Rabia Del Pueblo“ bzw. „La Rage du Peuple“, „die Wut des Volkes“. Dieses Volk, das sie als „Kinder der Erde“ ((„Enfants de la Terre“, in „V pour Vérités“.)) bezeichnet und zu dem sie sich selbst zählt, wird getäuscht und versklavt und ausgebeutet, sie sind nur „Marionetten“ ((„Marionettes“, aus „Effort de Paix“.)) an der Strippe der „Eliten“ ((„Les élites“, aus „V pour Vérités“ und „La Rage“.)). Sie selbst „hat zwischen den Zeilen gelesen“ ((„Il faut […] savoir lire entre les lignes librement“, aus „Ils ont Peur de la Liberté“.)) und so den Plan dieser „Eliten“ durchschaut. In einem Manifest, das „La Rage du Peuple“ auf seiner Webseite, die es inzwischen nicht mehr gibt, veröffentlich hat, verspricht das Kollektiv, „Manipulationen und Verschwörungen aufzudecken“ ((„Nous dénonçons les manipulations et les conspirations.“, gefunden auf der am 14.09.2010 das letzte Mal gespeicherten Sicherheitskopie der Webseite: https://web.archive.org/web/20100914172434/http://www.laragedupeuple.org/.)).

Doch wer sind diese „Eliten“ noch einmal genau und wie werden sie von Keny Arkana charakterisiert? Ich habe mal gesammelt, wer alles darunter fällt: die „Großkonzerne“ ((„Les multinationales“, aus „Ordre Mondial“.)), manchmal auch nur die „Chefs von Großkonzernen“ ((„Chefs de multinationale“, aus „Ordre Mondial“.)), „Bruderschaften“ ((„Confréries“, aus „Ordre Mondial“.)), „Europa“ ((„L’Europe“, aus „V pour Vérités“.)), die „Regierungen“ ((Les gouvernements“, aus „V pour Vérités“.)), „der Westen“ ((„L’Occident“, aus „V pour Vérités“.)), „die Rüstungsindustrie“ ((Usines d’armement“, aus „Réveillez-vous“.)). Alles auch nicht gerade meine Lieblingsinstitutionen, ja, mächtige Institutionen auch, die Entscheidungen treffen, die selten humanistisch sind, ok. Für Keny Arkana sind sie aber mehr als das: „Sie“ ((Dieses Personalpronomen verwendet Keny Arkana sehr viel, um damit zu bezeichnen, wer für alle Übel auf dieser Welt verantwortlich ist, und mithilfe dessen sie sich und alle ihre „Kameraden“ (wie Keny Arkana ihre Mitstreiter*innen gerne bezeichnet), also das „Volk“, von „ihnen“ deutlich abgrenzt.)) sind „eine Bande von Undankbaren“ ((„Cette Bande d’ingrats“, aus „Désobéissance Civile“.)), „eine Bande von Vipern“ ((„Une bande de vipères“, aus „V pour Vérités“.)), „Folterknechte“ ((„Tortionnaires“, aus „V pour Vérités“.)), die „Armeen des Goldenen Kalbs“ ((„Les armées du veau d’or“, aus „V pour Vérités“.)), „Babylon“ ((„Babylon“ ist eine Metapher, die Keny Arkana sehr gerne verwendet, das Wort kommt entsprechend oft in ihren Texten vor. In einem Interview erklärt sie, Babylon sei ein Symbol für Herrschaft und Unterdrückung. Sie sagt, Babylon „verschleiert unseren Blick, klebt uns ein unsichtbares Raster vors Gesicht, das unsere Realität fragmentiert.“ („Babylone nous voile le regard, nous colle au visage un quadrillage invisible qui fragmente notre réalité.“), vgl. https://blogs.mediapart.fr/hassina-mechai/blog/110716/keny-arkana-l-autonomie-signifie-desequilibrer-le-systeme.)), „die neue Gestapo“ ((„La nouvelle gestapo“, aus „La rue nous appartient“.)) und sogar „die Söhne Satans“ ((„Les fils de Satan“, aus „Au milieu du chaos“.)). Sowieso verwendet Keny Arkana eine ausgesprochen biblische Metaphorik, gepaart mit einem pantheistischen Bekenntnis zu einem einzigen Gott, um ihren Kampf gegen das teuflische Böse zu beschreiben. Nicht nur in ihrer Metaphorik, in der sie diese Herrschenden als die „Söhne Satans“ bezeichnet, entmenschlicht sie diese, nein, sie tut es auch ganz konkret: In einem Lied spricht Keny Arkana diesen Herrschenden, in dem Fall „wirtschaftlichen Wesen“ (im Orig. „êtres économiques) das Menschsein explizit ab ((Vgl. „Ils ont Peur de la Liberté“, „il y a peu d’êtres humains parmi les êtres économiques“ [„es gibt wenige menschliche Wesen unter den wirtschaftlichen Wesen“].)). So schafft sie sich ein einfaches Feindbild, eines, das alle Akteur*innen machtvoller Institutionen – wohlgemerkt nur die, die in der internen Hierarchie ganz oben zu stehen scheinen – zu Monstern stilisiert, die die „menschlichen Menschen“, also die „Kinder der Erde“, unterdrücken und gegen die es aufzubegehren gilt. Ihre Kapitalismuskritik besteht also aus einem plumpen Gut-Böse-Schema, das zwar für jeden Fantasy-Film unentbehrlich ist (und auch für das Christentum übrigens), an der Realität unseres menschlichen Handelns gemessen aber reichlich unterkomplex ist. Dabei ist sie sich auch nicht zu schade, die gute alte Kraken-Metapher auszupacken, die sich auch bereits bei den Nazis großer Beliebtheit erfreut hat.

La science et la recherche au service de la pieuvre
Car un virus c’est mieux qu’une guerre pour exterminer un peuple

[Wissenschaft und Forschung stehem dem Kraken zu Dienste,
denn ein Virus ist besser darin, ein Volk auszurotten als ein Krieg.] ((„Réveillez-vous“.))

Viren, Impfung und sonstige biologische Kampfstoffe gegen die Menschheit

Wie in „V pour Vérités“ unterstellt Keny Arkana auch in „Réveillez-vous“, dass „sie“ vorhätten, ganze „Völker“ umzubringen, indem „sie“ absichtlich Epidemien auslösen. Wie wir in „V pour Vérités“ schon gelernt haben, haben diese absichtlich verursachten Epidemien auch noch einen anderen Hintergrund: Leute dazu zu bekommen, sich impfen zu lassen. Vielleicht „nur“, um Geld zu erwirtschaften. Doch Keny Arkana vermutet einen größeren Plan: die Verchippung der Menschheit. Wozu, ist auch nicht ganz klar, doch ihre Angst davor, eine „Wanze“ („puce“) eingeimpft bekommen zu haben oder eingepflanzt zu bekommen, äußert sie in mehreren Liedern: Neben „V pour Vérités“ auch in „Ils ont peur de la liberté“ (dt. „Sie haben Angst vor der Freiheit“) und in „Réveillez-vous“ (dt. „Wacht auf“). Natürlich ist Impfen auch ein Thema, um das sich die wildesten Verschwörungstheorien ranken, ebenso die Angst davor, von „ihnen“, verwanzt oder vergiftet oder beides zu werden. Keny Arkana reiht sich in die Tradition solcher Verschwörungstheorien gut ein.

Zwischen den Zeilen lesen…

Sie rät auch dringend dazu, „frei zwischen den Zeilen zu lesen“ ((„Il faut […] savoir lire entre les lignes librement“, aus „Ils ont peur de la liberté“.)), denn „je größer die Lüge ist, desto einfacher kommt sie durch“. Der Grund für diese Lüge liegt im „Durst nach dem schwarzen Gold, den es zu verschleiern gilt“, weswegen „sie“ „alles Denkbare erfinden“. ((„Plus le mensonge est gros, plus il passe mais qu’est-ce qu’on inventerait pas pour dissimuler sa soif d’or noir“, aus „Ne t’inquiète pas“, dt. „Mach dir keine Sorgen“.)) Auch hier deutet Keny Arkana eine gigantische Verschwörung an. Die Lüge sei so groß, dass es nötig sei, – ganz im Gegensatz zur wissenschaftlichen Methode – frei zu interpretieren und kleinste Indizien als Hinweise auf diese Verschwörung zu sehen und in letzter Konsequenz einfach nur das zu sehen, was auch immer du sehen willst. Auch dieser Rat findet sich bei den meisten Verschwörungstheoretiker*innen.

„Lügenpresse“?

Eine Quelle, über die du Informationen beziehen kannst, kann Keny Arkana aber überhaupt nicht empfehlen: die Medien, insbesondere die Presse ((Im Orig. „les médias“. Im Französischen bezeichnet „les médias“ allgemein Medien. Meist und besonders in diesem Zusammenhang sind aber besonders die Massenmedien gemeint, also öffentliche Fernsehsender und auflagenstarke Zeitungen.)). Diese lüge ihrer Meinung nach permanent. ((Vgl. „V pour Vérités“, „le mensonge sort de la bouche des médias“.)) Schlimmer noch, sie bzw. die Medien im Allgemeinen seien die „am besten funktionierende Säule des Staatsterrorismus“ ((Vgl. „V pour Vérités“, „Le pilier le plus fonctionnel du terrorisme d’Etat“.)). Je nach Thema sind die Medien unterschiedlichen mächtigen Akteur*innen unterworfen. Während in „V pour Vérités“ die Medien Staatspropaganda betreiben, sind sie in „Ordre Mondial“ der „Weltordnung“ unterworfen, die ja gerade die Staaten entmachtet habe. In „Réveillez-vous“ hingegen seien zumindest die größten Medien im Besitz der Waffenindustrie ((Vgl. „Réveillez-vous“, dt. „Wacht auf“.)). Dabei übernehmen die Medien die Aufgabe, bei den unterdrückten „Kindern der Erde“ Gehirnwäsche zu betreiben ((Vgl. „L’Ordre Mondial“, „Je contrôle vos esprits par le biais des médias“, „Ich kontrolliere euer Bewusstsein mithilfe der Medien“.)) und ihnen die Propaganda der Weltordnung einzutrichtern ((Vgl. „La rue nous appartient“, dt. „Die Straße gehört uns“, „Et ces putains de médias vendus qui ne connaissent que la propagande“. „Und diese verkauften Scheißmedien, die nur Propaganda kennen.“)). Wieder ein beliebtes Motiv: alle Medien als verlängerter Arm der geheimen Schattenregierung oder auch diverser mächtiger Institutionen. Auch hier bin ich mir natürlich bewusst, dass je nach Land die Presse sehr stark zensiert oder auch vollständig kontrolliert wird, und dass auch in „westlichen Ländern“ die Nachrichten und Kommentare häufig stark ideologisch gefärbt sind, schlecht recherchiert wurde, eine ideologisch gefärbte Auswahl getroffen wird, und die Medien keineswegs so neutral und unabhängig und divers sind wie sie immer zu sein vorgeben. Doch Keny Arkana zeichnet das Bild einer global gleichgeschalteten Presse, die nur mit dem Ziel existiert, Menschen in gleichgeschaltete Roboter zu verwandeln. Mit diesem Bild bewegen wir uns wieder im Bereich antisemitischer Verschwörungstheorien.

Die jüdische Weltverschwörung

Fassen wir noch einmal die Kapitalismuskritik Keny Arkanas zusammen: Sie konstruiert das Bild einer geheim agierenden globalen Regierung, die sich überwiegend aus den Eliten mächtiger Institutionen zusammensetzt. Diese Regierung bestehe laut ihr aus egoistischen entmenschlichten Teufeln, die das gute unschuldige Volk von seiner natürlichen Einheit zu Mutter Erde und zu Gott trennten, um eine totale Herrschaft auszuüben. Dabei nutzen sie die Medien, um das arme unschuldige Volk gehirnzuwaschen. Des Weiteren entwickelten sie Biokampfstoffe wie Viren, um ganze Völkermorde zu begehen, bereiteten Hungersnöte vor und zwingen alle zum Impfen, und das alles, um ihre totale Überwachung und Kontrolle über Menschen auszubauen. Sie konstruiert damit genau die Verschwörungstheorie, die bereits die Nationalsozialist*innen als „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ bezeichnet haben. Die verantwortliche Personengruppe ist bei Keny Arkana nicht jüdisch. Doch wenn alles (mehr oder weniger) gleich bleibt, außer dass sich der Name der verantwortlichen Person verändert, dann ist es genau der gleiche Antisemitismus wie vorher. Leider ist diese Form der Kapitalismuskritik nicht nur bei Keny Arkana sehr beliebt, sondern ist besonders in Antiglobalisierungsbewegungen – zu denen auch Keny Arkana sich zählt – sehr weit verbreitet. Wer allerdings eine solche Kritik betreibt, ist anschlussfähig an rechtsradikale Diskurse. Wie gesagt, auch Nazis waren (und sind immer noch) scheinbar antikapitalistisch.

Keny Arkana und ihr Verhältnis zu Israel

Keny Arkana mit Kufyia und Palästina-Flagge am Arm.

Nach einem kleinen Ausflug in die Welt antisemitischer Verschwörungstheorien möchte ich mich noch mit einem anderen Aspekt des Antisemitismus bei Keny Arkana auseinandersetzen: nämlich mit einer moderneren Variante, dem israelbezogenen Antisemitismus. So bekennt sich Keny Arkana offen solidarisch mit den Unabhängigkeitsbestrebungen Palästinas. Sie trägt so gut wie immer einen schwarz-weiß karierten Kufiya, wie ihn Arafat trug und der in westlichen Ländern zu dem Symbol der Solidarisierung mit dem Kampf der Palästinenser*innen wurde. ((Umgangssprachlich „Pali“ oder „Palästinensertuch“ genannt.)) 2010 trat sie auf einem Solidaritätskonzert mit Palästina namens „Nos Voix pour la Palestine“ (dt. „Unsere Stimmen für Palästina“) auf ((Vgl. https://www.dailymotion.com/video/xdtw3f.)), 2013 ebenfalls auf einem Palästina-solidarischen Konzert „pour une Palestine libre“ (dt. „für ein freies Palästina“) ((Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=V0gscjghQtI.)). Auf letzterem verkündete sie auf der Bühne: „Vive la Palestine libre! C’est pas une guerre, c’est un génocide!“ ((https://www.youtube.com/watch?v=V0gscjghQtI, 1:49. „Es lebe das freie Palästina. Das ist kein Krieg, das ist Völkermord!“)) Leider konnte ich nicht herausfinden, wie viele Lieder Keny Arkana auf dem Konzert 2010 gespielt hat. Der Videoausschnitt, der auf Dailymotion zu finden ist, zeigt zwei Lieder: eines mit dem Titel „Sans Terre d’Asile“ (dt. „Ohne Land für Asyl“), das andere „Le Missile suit sa Lancée“ (dt. „Die Rakete verfehlt ihr Ziel nicht“). Auch wenn es inhaltlich in beiden Liedern nicht explizit um den Nahostkonflikt geht, scheint mir die Auswahl dieser Titel kein Zufall: Die thematisierte Landlosigkeit passt einfach zu gut zum Nahostkonflikt und Keny Arkanas Haltung dazu, und die „Rakete“ mag in dem Lied eigentlich nur metaphorisch sein, in explizitem Bezug auf den Nahostkonflikt nimmt diese aber erschreckend reale Ausmaße an. ((Aber unter Vorbehalt, da ich leider nicht herausgefunden habe, ob und wenn ja, welche Tracks Keny Arkana noch gespielt hat. Falls jemensch da mehr herausfinden kann oder weiß, freue ich mich über Ergänzungen bzw. Korrekturen.)) Wer eine Rakete besingt, die ihr Ziel nicht verfehlt, in Solidarität mit „einem freien Palästina“  – und damit Assoziationen mit den Raketenangriffe der Hamas auf Israel weckt –, scheint eine gewisse Vernichtungsfantasie gegenüber dem israelischen Staat nicht auszuschließen.

Dass Keny Arkana die Staatsgründung Israels für falsch hält, zeigt sich im Musikvideo zu „La Rage“ (dt. „Die Wut“). Das Lied handelt von „der Wut“, die „das Volk“ aufgrund unzähliger Missstände auf diesem Planeten hegt und hat Keny Arkanas Künstler*innenkollektiv „La Rabia del Pueblo“ ((Vgl. https://fr.wikipedia.org/wiki/La_Rage_du_peuple.)) bekannt gemacht. Das dazugehörige Musikvideo besteht aus der Aneinanderreihung vieler Fotos und Videoschnipsel, die alle möglichen realen militärischen und sonstigen Auseinandersetzungen – insbesondere die zwischen Zivilist*innen und bewaffneten Einheiten – zeigen. Bei 1:05 wird ein Foto eingeblendet, auf dem ein Mensch ein Schild mit Palästina-Fahne und dem Schriftzug „Free Palestine“ hochhält. Eine Minute später finden sich darin auch folgende beide Fotos aneinander gereiht, die gemeinsam nicht einmal eine Sekunde eingeblendet werden ((Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=oewRadlyrHo, 2:24.)):

Sie illustrieren die im Lied formulierte Wut auf „Sharon“ ((„La rage d’un Chirac, d’un Sharon, d’un Tony Blair ou d’un Bush“, dt. „Die Wut über einen Chirac, einen Sharon, einen Tony Blair oder über einen Bush“.)), vermutlich Ariel Sharon, ein inzwischen verstorbener ehemaliger Angehöriger der israelischen Armee, der eine große Rolle in fast allen militärischen Auseinandersetzungen Israels gespielt hat und der von 2001 bis 2006 israelischer Premierminister war. ((Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Ariel_Sharon und https://de.wikipedia.org/wiki/Ariel_Sharon.)) Das dazu eingeblendete Foto, das einen Zeitungsartikel zeigt, der von der Staatsgründung Israels berichtet, weist darauf hin, dass Keny Arkana nicht nur Position für palästinensische Bestrebungen im Israel-Palästina-Konflikt bezieht, sondern auch bereits die Gründung Israels als eines der Ereignisse des 20. Jahrhunderts anzusehen scheint, das ihre Wut und die des „Volkes“ verdient hat. Wohlgemerkt wird der Zweite Weltkrieg, der Holocaust, der historische Nationalsozialismus und dessen Nachleben – immerhin nicht ohne Grund zeitlich ganz dicht an der Gründung Israels – weder im Lied noch im Musikvideo thematisiert. Dass sie keinerlei Verständnis für die Bestrebungen hat, einen Schutzraum für Jüd*innen gegen einen global verbreiteten Vernichtungsantisemitismus zu schaffen, und der Holocaust und auch heute grassierender Antisemitismus und Nationalsozialismus in keinem ihrer Lieder eine Rolle spielt, lässt stutzen.

Israelbezogener Antisemitismus zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass der Staat Israel unter besonderer Beobachtung steht ((Kennzeichnend dafür ist der Begriff „Israelkritik“. Kein anderer Staat kennt diese Bezeichnung, es gibt weder „Deutschlandkritik“ noch „Russland-„, „Türkei-“ oder „USA-Kritik“.)) und anderen Ansprüchen standhalten muss als andere Staaten. Insbesondere gehört dazu, Israel zu verteufeln und seine Politik mit der der historischen Nazis zu vergleichen. ((Vgl. Amadeu-Antonio-Stiftung (Hsg.): „Man wird ja wohl Israel noch kritisieren dürfen…?“. Eine pädagogische Handreichung zum Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus. 2017. Online abrufbar unter https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/aktionswochen/paedagogischer-umgang-mit-israelbezogenem-antisemitismus.pdf.)) Und genau das findet sich in Keny Arkanas Haltung zum Israel-Palästina-Konflikt. Nicht nur ignoriert sie vollkommen die historischen Umstände der Gründung Israels und verteufelt Israel einseitig als „westlichen Kolonialstaat“, sondern sie solidarisiert sich offenbar bedingungslos mit palästinensischen Bewegungen im Namen der Menschenrechte und ignoriert dabei, dass es sich um einen seit Jahrzehnten andauernden bewaffneten militärischen Konflikt handelt mit mehr oder weniger gleich starken Parteien, auf palästinensischer Seite angeführt von Leuten wie der Hamas, die die Vernichtung Israels und die Errichtung eines islamistischen Staates zum Ziel haben. Dass der demokratische Staat Israel – mit all seinen Problemen – von ihr so verteufelt wird, während die autoritäre islamistische Hamas-Regierung im Gazastreifen, die Oppositionelle z. B. brutalst verfolgt, foltert und umbringt, den Holocaust leugnet und Antisemitismus verbreitet, bei ihr keine ähnliche bzw. sogar deutlich schärfere Kritik hervorruft, zeigt, dass sie doppelte Standards anlegt, also nicht an jeden Staat oder jede Regierung dieselben Ansprüche stellt. Wenn sie behauptet, dass es sich bei dem Israel-Palästina-Konflikt nicht um einen Krieg, sondern um einen Völkermord handele, ist das eindeutig Propaganda und eine Verteufelung Israels. Auch in ihrem Lied „La Vérité fait Mal“ (dt. „Die Wahrheit tut weh“) von 2017 zieht sie einen solchen Vergleich, indem sie den Nahostkonflikt mit dem Genozid an den amerikanischen Natives gleichsetzt. ((„Israël tue les arabes comme l’Amérique a tué les indiens quelques siècles avant“, dt. „Israel tötet die Araber wie Amerika einige Jahrhunderte vorher die Indiander getötet hat.“)) In diesem Lied schickt sie auch einen solidarischen Gedanken an Gaza, doch eben nicht in Solidarität mit der von der Hamas unterdrückten Bevölkerung oder auch mit den unter der Kriegssituation leidenden Menschen – die gäbe es ja auch auf beiden Seiten –, sondern es werden lediglich westlich-koloniale Strukturen kritisiert, zu denen sie auch Israel zählt. Klar sind der westliche Imperialismus und Kolonialismus und auch ihre heute noch existierenden Strukturen scheiße und klar kann auch Israel in diesem Kontext betrachtet werden, jedoch nur unter Miteinbeziehung des global verbreiteten (Vernichtungs-)Antisemitismus. Keny Arkana jedoch baut auch hier ein einfaches Gut-Böse-Schema auf, in dem die „Guten“, also in ihrem Fall „die Araber“, lediglich erleidende Opfer sind, und nicht handlungsfähige, widerständige Individuen mit eigenen – unter vielen anderen auch hochproblematischen – Diskursen und Idealen. In diesem Lied denkt sie an Leute in „Gaza, Kabul, Bagdad, Damas und Tripolis“, jedoch nur im Zusammenhang mit Kolonialpolitik und nicht auch im Kampf gegen ihre eigenen Regierungen, kein Wort zum Arabischen Frühling, kein Wort zu den Diktaturen in diesen Ländern, kein Wort zu islamistischen, autoritären, repressiven und brutalen Gruppierungen. Das Bild, das sie zeichnet, ist extrem einseitig und vereinfacht.

Fazit

Ebenso wie bei ihrer Kapitalismuskritik spricht sie den aus ihrer Sicht „unterdrückten Menschen“ jede Handlungsfähigkeit und besonders jede Verantwortung ab. In all ihren Kritiken gibt es keine Grautöne, nur die Vorstellung von Unterdrücker*innen und Unterdrückten. Klar ist es bequem, sich auf der Seite der Unterdrückten zu sehen und gemeinsam mit ihnen um Befreiung zu kämpfen. Aber so einfach ist es nun einmal nicht. Keny Arkana weigert sich genau hinzuschauen und liest lieber „zwischen den Zeilen“. Was dabei herauskommt, ist antisemitisch und verschwörungstheoretisch und ist voll an rechtsradikale Diskurse anknüpfungsfähig. Wie beispielhaft an „V wie Vendetta“ erläutert wurde, sind solche verschwörungstheoretischen Denkmuster beliebt und weit verbreitet. Insbesondere die Vorstellung, dass es einige „böse Eliten“ gibt, die allein verantwortlich sind für alles Übel der Welt und dass mensch selbst und auch alle Freund*innen und sowieso die meisten unschuldige Opfer sind, von denen die meisten zwar noch von der Propaganda eingelullt werden, aber die mensch potenziell nur „aufwecken“ muss, ist natürlich sehr bequem und so angenehm für eine*n selbst. Wer sieht sich schließlich schon gerne als Teil des Problems?

Anhang

Damit ihr euch selbst überzeugen könnt, findet ihr hier die beiden Lieder, aus denen ich am meisten zitiert habe, „V pour Vérité“ und „Ordre Mondial“, in vollständiger Übersetzung:

W wie Wahrheit

[Nachrichtensprecher]
Meine Damen und Herren, guten Abend, hier die neuesten Nachrichten für diesen Montag:
Viele Fragen nach dem Ausbruch der Gewalt gestern Nachmittag im ganzen Land, was hat sich wirklich ereignet, wer sind diese tausenden Militanten, die sich selbst als Bewegung für das Lebende bezeichnen und die die Infrastruktur in den meisten Städten behindern und teilweise sogar lahmlegen, Verkehrschaos, riesige Demonstrationen, Gérard Dupain, Spezialist für aufständische sowie neue soziale Bewegungen wird sich in dieser Sendung dazu äußern und wird uns …

[Keny Arkana]
Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten
Kurze Unterbrechung Ihrer Fernsehsendung, weil unsere Stimme außer Betrieb ist
Dringendes Bedürfnis vor den Augen des Landes unseren Standpunkt darzulegen
Ausdrücken warum wir dringendst dazu aufrufen nicht zu gehorchen
Wir sind nicht Ihre Feinde, auch wenn wir Feinde des Systems sind
Aufständisch gegen das Regime, das eine Bande Vipern etabliert hat
Wir sind Teil derer, die sich erhoben haben
Um nein zu sagen. Söhne der Freiheit, wir schulden es uns zu handeln
Weil ihre Welt nach Tod stinkt, weil alles Lebende wanted ist
Weil sie nicht die Größe widerspiegelt, die die Menschheit in sich trägt
Verloren in ihrem Streben, Bedauern in ihren Fingern
Sagt den Folterknechten, dass wir nicht zulassen, dass unser Stern ermordet wird
Das Blut des Egoismus hat jede geschriebene Seite gefüllt
Dasselbe, das das kollektive Schicksal in eine Tragödie verwandeln kann

[Nachrichtensprecher]
Wir bitten Sie darum, diesen technischen Vorfall zu entschuldigen, es sieht so aus als hätten wir einige Probleme

[Keny Arkana]
Entschuldigung für diesen technischen Vorfall. Man muss sagen, dass sie nicht wollen, dass wir mit Ihnen reden
Unser Kampf ist legitim, denn wir stehen einer Holocaustpolitik gegenüber
Die die Dinge nicht verändern wird. Sie haben die Regeln auf eine Art und Weise aufgestellt
Dass dieser und jener Krieg Profit aus dem Blut von Mutter Erde zieht
Am Fuß der Mauer, fast in die Falle getappt
Meine Damen und Herren, glauben Sie nicht, dass die Regierungen Sie beschützen
Sie bereiten den Boden für den größten Völkermord
Hungersnot in den reichen Ländern, Repression, aber auch
Epidemien, vielleicht, damit wir Angst haben, uns zu versammeln
Oder auch nur um einen Haufen vergifteter Impfstoffe zu verkaufen
Vielleicht mit einer Wanze darin, dient diese der Überwachung?
Oder um unser seelisches Gleichgewicht mithilfe seiner Frequenzen zu verändern
Der Westen baut Lager, Europa bereitet sich vor die Todesstrafe wieder einzuführen
Insbesondere für die Aufständischen

[Kommissar]
Hey! Was passiert hier bei der Regie?

[Techniker]
Geschafft, wir sind auf Sendung!

[Kommissar]
Meine Damen und Herren, wir sind nach aller Wahrscheinlichkeit Opfer eines bösartigen Hackingangriffs.
Die zuständigen Behörden haben alles in Gang gesetzt, um zu versuchen…

[Keny Arkana]
Hey, ich bin noch nicht fertig. Im Namen derer, die ein Ideal nicht mehr ertragen wollen,
Die Flamme im Herzen, das eure Leiden nicht rechtfertigt
Die Hoffnung auf einen neuen Atem, die Suche ist noch nicht beendet
Menschheit, jeder Moment ist geeignet, enthält die Ewigkeit
Friedenssoldaten, so stellen wir sie in Frage
Eine Maschine, die ermordet, gesegnet seien die, die sich widersetzen
Die, die etwas anderes aufbauen
Meine Damen und Herren, bitte öffnen Sie die Augen, denn die Welt wird auch Ihr persönliches Schicksal sein
Die Herzen sind verstrahlt, verschlossen wie ein Tresor
Alle Degen der Veränderung enden unter den Schlagstöcken der Polizisten
Bullen, die mit Kolonialrassismus bewaffnet sind
Ehrbare Prinzipien, die erstickt wurden, weil nur an den Dollar gedacht wird
Die Stimmung im Keller, weil wir unsere Städte verlieren
Mit amerikanischen Filmen und dem Essen aus Tschernobyl gefüttert
Scheiße, wir haben nein zur Schummelei der Sieger gesagt
Zeichne morgen neu, werde Volk. Gesellschaft wird wieder Volk

[Nachrichtensprecher]
Sehr geehrte Zuschauer, Sie haben gerade die terroristische Propaganda einer Gruppe unverantwortlicher Menschen gehört, die Polizei hat uns darüber informiert, dass dieses Grüppchen polizeibekannt ist und dass sie …

[Keny Arkana]
Meine Damen und Herren, hören Sie ihnen nicht zu
Debattiert nicht mit ihnen über die Schäden
Die Medien lügen nur
Sie wollen uns mundtot machen. Den Folterknechten Medaillen zu verleihen
Ist die am besten funktionierende Säule des Staatsterrorismus
Ich lasse die Bombe platzen, bin gekommen Sie ihnen zu verkünden
Sehen Sie, dass wir jede Menge schöne Sachen zu errichten haben
Und dass niemand kommen wird, um uns zu retten
Alle erschlagen, da draußen. Allein der Glaube ist noch aus Gold
Sind Sie einverstanden damit, dass diese Welt nicht den Traum der Menschheit widerspiegelt?
Innere Revolution, sobald man versteht
Dass man den Wandel in sich tragen muss, damit er sprießen kann
Der Exodus wird urban sein, möge Gott uns auswählen
Denn es sind die Kinder der Erde gegen die Armeen des goldenen Kalbs
Meine Damen und Herren, wir sind diese jungen Menschen, die in Ghettos gesperrt werden
Erinnern Sie sich an unsere Worte, sobald Sie uns Terroristen nennen
Auf Sendung war Arka vom Clan der Wanted
Wie ein Echo eines fernen Versprechens

[Techniker]
Sag, dass das Stuss ist.

[Nachrichtensprecher]
Meine Damen und Herren, wir möchten uns noch einmal entschuldigen nach diesem widerlichen Akt
Wir sind endgültig wieder allein auf Sendung, wir betonen noch einmal, dass dieses Grüppchen extrem gefährlich ist, alles was Sie gerade gehört haben, ist natürlich vollkommen gelogen

Weltordnung

[Strophe 1]
Ich bin da, überall, ich habe die Mauern enger gezogen
Ich habe meine Überwachung aufgezwungen, überall in den Straßen Kameras
Ich habe die Grenzen vertieft, eine Festung für die Dritte Welt
Ein Schießplatz für Menschen ohne Papiere, damit die Geschäfte steigen
Ich verteidige nicht den Menschen, sondern das Kapital
Ich etabliere die Handelsregeln so, dass sie dem Westen zugute kommen
Ich bin die Kunst zu plündern und dabei glauben zu machen, dass nichts gestohlen wird
Dem Wachstum unterworfen, deine Menschenrechte interessieren mich einen Scheiß!
Ich verstecke mich hinter Ideologien damit die öffentliche Meinung einverstanden ist
Ich habe die Biometrie auf den Pässen aufgezwungen
Ich habe die Angst produziert, damit alle gehorchen
Denn ich möchte alles verzeichnen, ich will Zahlen und Barcodes
Ich kontrolliere euer Bewusstsein mithilfe der Medien, ihr seid mir ausgeliefert
Die Füße zur Unbeweglichkeit verdammt
Denn ihr glaubt, ihr seiet frei, aber seid seit der Schule abgerichtet
Um euch Hierarchie beizubringen und für immer zu gehorchen

[Refrain]
Ich bin die Weltordnung
Die Ordnung, die von den Mächtigen geschaffen wurde
Bruderschaften, Chefs von Großkonzernen
Wirtschaftspolitiken, ich bin die Konjunktur
Die dem Planeten aufgezwungen wurde, ich habe meine Diktatur etabliert

[Strophe 2]
Ich habe die Macht der Nationen zerstört, ich zwinge mein Gesetz allen Ländern auf
Das ist die Illusion, die ihr „Demokratie“ nennt
Denn die Ordnung kommt von mir, sicher nicht von einem Volk
Ich forme euch nach meinem Gutdünken sobald ihr Angst bekommt
Ich bin das Produkt der Tyrannen, die Struktur, die zerstört
Im Namen der Warenwerte, die bis in eure Seele eingepflanzt sind
Ich pumpe das Blut aus der Dritten Welt, ich klaue ihre Politik
Befehle ihnen uns alle öffentlichen Aufgaben zu verkaufen
Ein Volk, das aufbegehrt? Ich werde ihm die Lebensmittelzufuhr abschneiden
Um besser seinen Hass zu nähren und es in einen Bürgerkrieg zu führen
Weil es keine besseren Profite gibt als mit dem Tod zu handeln
Zerstörung, Wiederaufbau, Investitionen, Waffenhandel
Pro Krieg, wohlhabend fache ich das Feuer weiter an
Bringe euch gegeneinander auf, um noch mehr Kraft zu gewinnen
Denn meine Herrschaft wird noch größer, je mehr ihr euch spaltet
Liberal kapitalistisch, euren Illusionen zu Diensten

[Strophe 3]
Alles ist Profit, alles ist Ware, das ist meine Devise
Ich habe die Klassen erfunden, damit ihr euch im Feind irrt
Ich habe euch Werkzeuge gegeben, mit denen ihr mich bekämpfen könnt
Gewerkschaften, einige Parteien, aber immer durch meine Gesetze eingerahmt
Ja, ich zerstöre die Natur denn das, was mir wichtig ist, ist das Wachstum
Euer Planet ist mein Sklave geworden
Ich ernähre ihn mit Müll, verschmutze ihn bis zur Wurzel
Während ich mich satt esse an neuen mörderischen Maßnahmen
Ich vergifte eure Körper mit getürkten Nährstoffen
Genetisch verändert, weil das Leid Gewinn abwirft
Ich habe das Klima aus dem Gleichgewicht gebracht, die Menschen entmenschlicht
Das Lebende entnaturisiert, die Hoffnung in vollem Aufschwung erschossen
Ich habe es geschafft euch glauben zu machen, dass das Leben darin besteht, zu konsumieren, konsumieren
Konsumieren um mein Imperium besser aufzubauen
Ich bin zum schlimmsten fähig um euch das glauben zu machen das nötig ist
Wenn ich euer Bewusstsein kontrolliere, ist es dank der Kultivierung des Profits


Anmerkungen

Warum Schwangerschaftsabbruch kein Frauenthema ist

Dieser Artikel erschien im Oktober 2018 im anarchafeministischen Fanzine Nebenwidersprüche.

In vielen Plädoyers für eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und gegen (fundamental-christliche) Abtreibungsgegner*innen, ist ausschließlich von „ Frauen “ als die Betroffenen von Schwangerschaftsabbrüchen die Rede. Was ich mich beim Lesen dieser Texte immer frage: Was ist mit all den anderen Menschen, die vor der Entscheidung stehen, einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen? Sind deren Erfahrung, deren Schwierigkeiten, deren Kampf um Selbstbestimmung über ihren Körper nicht etwa auch ein Grund, für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche auf die Straße zu gehen?

Welche anderen Menschen?

Da gibt es viele: trans Männer sowie intersexuelle Menschen, die sich nicht als Frauen verstehen, und Menschen, die sich außerhalb der binären Geschlechterordnung verorten und die mit reproduktiven Organen ausgestattet sind, die es ihnen ermöglichen, ein Kind auszutragen.

Ja, aber wenn ich in dem Zusammenhang von Frauen spreche, dann meine ich die doch alle, ich meine doch, dass sie alle eine Gebärmutter und Eileiter haben und was sonst noch biologisch so nötig ist, um ein Kind auszutragen.

Wer gibt dir das Recht, all die Menschen, die mit den entsprechenden körperlichen Merkmalen ausgestattet sind, in die Gruppe „ Frauen “ zu stecken? Wer gibt dir das Recht, die geschlechtliche Identität, mit der Menschen sich identifizieren und mit der sie sich im Einklang fühlen, infragezustellen und ihnen ein Label zu verpassen, gegen das sie sich immer gewehrt haben oder in das sie gegen ihren Willen hineingepresst wurden oder werden? Brauchst du eine funktionierende Gebärmutter, um eine Frau zu sein? Wenn ja, was ist mit der Frau , die aus medizinischen Gründen
ihre Gebärmutter hat entfernen lassen müssen? Ist sie jetzt keine Frau mehr? Was mit der, die nie eine hatte? Ist sie deshalb keine Frau, auch wenn sie sich selbst als eine solche versteht? Was ist, wenn du unfruchtbar bist oder dich hast sterilisieren lassen oder du noch ein Kind oder ein*e Greis*in bist? Was ist mit trans Frauen ? Der Begriff „ Frau “ umfasst viel mehr Menschen als die, die vom Thema Schwangerschaftsabbruch unmittelbar betroffen sind. Zusätzlich werden mit diesem Begriff eine Menge Menschen ausgeschlossen und unsichtbar gemacht, für die dieser Eingriff
Relevanz hat.

Und welchen Begriff soll ich dann nehmen?

Lass dir was einfallen. Je nach Kontext machen sich zum Beispiel „ungewollt Schwangere“, „mit der Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft konfrontierte Personen“ oder „Betroffene“ sehr gut.

Ist ein Fötus nur ein Zellhaufen?

Ethische Erkundungen zu Pro Choice und Schwangerschaftsabbruch1

Dieser Artikel ist eine Überarbeitung des Artikels Ein Fötus ist (k)ein Zellhaufen – Plädoyer für eine differenzierte Sicht auf Schwangerschaftsabbrüche, erschienen im Juli 2017. Er erschien im Oktober 2018 im anarchafeministischen Magazin Nebenwidersprüche.

Singend und betend ziehen sogenannte „Lebensschützer*innen“ durch die Städte, postieren sich vor Abtreibungskliniken und Beratungsstellen und treiben Mitarbeiter*innen, Beratung suchende Personen sowie Personen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen wollen, in den Wahnsinn. Sie werfen ihnen „Kindsmord“ vor und sprechen von „Massentötungen“. Auch wenn sie aus der Zeit gefallen und eher eine skurille Randerscheinung zu sein scheinen, so treffen sie bei vielen, die über einen Abbruch der Schwangerschaft nachdenken, einen wunden Punkt. Denn eine Entscheidung zu einem Schwangerschaftsabbruch ist keine leichte Sache. Wie ist dieser ethisch zu bewerten? Und ab wann ist diese verdammte befruchtete Eizelle eigentlich ein Mensch?Schwangerschaftsabbruchs-Gegner*innen wie Befürworter*innen gehen wegen dieser Frage auf die Barrikaden. Während für die einen bereits die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ein Kind hervorbringt, sind zentrale Ansichten von Befürworter*innen des Schwangerschaftsabbruchs, dass der Fötus nur ein “Zellhaufen“ sei und dass ein Selbstbestimmungsrecht auch über den schwangeren Körper endlich anerkannt werden muss.

Diese beiden zentralen Anliegen von Pro Choice-Aktivist*innen möchte ich gerne einer genaueren Betrachtung unterziehen, damit wir zu einer differenzierteren Ansicht zum Thema Schwangerschaftsabbruch gelangen können und um uns damit im Kampf gegen Fundis und gegen Abtreibungsgegner*innen zu stärken.

Der Fötus und der Zellhaufen

So ist bei der Deklarierung des Fötusses als “Zellhaufen” festzustellen, dass die Argumentation der christlich-fundamentalistischen Abtreibungsgegner*innen gerne einmal einfach umgekehrt wird. Das “Kind” wird zum “Zellhaufen”, das “Verbrechen” zum “fundamentalen Menschenrecht”. Einfach ein Minus vor die Gleichung zu setzen bedeutet aber, in der Argumentationsweise der Fundis zu verbleiben und sich an derselben Stelle angreifbar zu machen, wie sie es auch tun.

Seit Jahrtausenden wird darüber philosophiert, was einen Menschen ausmacht und ab wann etwas Mensch ist und damit in unserem westlichen heutigen Verständnis eine besondere moralische Entität darstellt, die einen besonderen Schutz, wie das Verbot des Tötens, genießt. Darunter fällt auch die Frage danach, ab welchem Moment im Zeugungsprozess eines Menschen dieser auch Mensch ist. Ab der Verschmelzung von Samen- und Eizelle? Mit Vollendung der Geburt? Irgendwann dazwischen? Oder bereits im Hodensack, wie Gegner*innen eines außerhalb der Gebärmutter stattfindenden Samenergusses meinen? Die berühmte „Paradoxie des Haufens“: Ab wieviel aufeinander gestapelten Sandkörnern werden einzelne Sandkörner zum Haufen? Zwei? Drei? Fünf? Jede*r kann hier eine eigene Entscheidung treffen, eine “objektive” Lösung dieser Frage gibt es nicht2. Warum diese Frage nicht einfach ruhen lassen und andere Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs betrachten?

Schwangerschaftsabbruch als Folge nicht passender Umstände

Es ist unbestreitbar, dass der Körper selbst Schwangerschaftsabbrüche in Form von Fehl- und Frühgeburten vornimmt, wenn die körperlichen Voraussetzungen – die auch von der Umwelt des Körpers beinflusst sind – offenbar nicht passen. Doch auch wenn der Körper nicht “von selbst” handelt, gibt es viele körperliche wie soziale Situationen, in denen die Konsequenzen einer Schwangerschaft eine Katastrophe sein können. Egal, wie die Rechtslage in einem Land ist und egal, wie das Angebot zur Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs ist, ungewolllt Schwangere finden einen Weg, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Und nehmen eher den Tod oder schwere gesundheitliche Schäden dabei in Kauf als die Schwangerschaft auszutragen. Rund fünfzigtausend Menschen sterben jährlich an schlecht durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen3. Aus diesem Grund scheint es mir unerlässlich, einen genaueren Blick auf die Umstände zu werfen, die einer Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch zugrundeliegen und nicht darin bestehen, dass das körperliche Wohlergehen der schwangeren Person medizinisch gefährdet ist:

Soziale Ungleichheit, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und andere Widrigkeiten

So kann die Vorstellung, ein Kind auszutragen und großzuziehen, das eine Be_hinderung haben wird, zu einer solchen Überforderung führen, dass ein Schwangerschaftsabbruch der einfachere Weg zu sein scheint. Hier spielen die gesellschaftlichen Normvorstellungen, dass ein Kind „hauptsache gesund“ zur Welt kommen soll, die damit einhergehende Enttäuschung und Angst vor den Blicken der anderen eine tragende Rolle. Auch wenn ein Elternteil oder beide Be_hinderungen haben, kann eine Schwangerschaft überfordern, besonderns aber kann auch der Druck von außen sehr groß sein, eine Schwangerschaft abzubrechen.

Auch Armut spielt hier eine wichtige Rolle. Wer sich ein Kind oder noch ein Kind “nicht leisten” kann, hat häufig keine andere Wahl. Dass dann auch Verhütungsmittel nicht wenig Geld kosten, ist dabei eine besondere Ironie. Denn wer sich die Verhütungsmittel nicht leisten kann, ist logischerweise häufiger von ungewollter Schwangerschaft bedroht. Auch prekäre Arbeitsverhältnisse (wie zum Beispiel illegalisierte Arbeit) können Grund für einen Abbruch sein.

Auch wer einen unsicheren Aufenthaltsstatus hat, sich gerade auf der Flucht befindet, von Abschiebung bedroht ist, befindet sich in einer denkbar ungünstigen Situation für eine Schwangerschaft. Gerade auch hier ist der Zugang zu Verhütungsmitteln häufig äußerst schwierig.

Auch psychische Probleme können dem Vollenden einer Schwangerschaft im Wege stehen. Ebenso Krankheit, eine Abhängigkeit oder mangelnde Selbstständigkeit.

Viele weitere Gründe hängen mit den sexistischen Strukturen unserer Gesellschaft zusammen. So kann die Ursache für eine Schwangerschaft in sexualisierter Gewalt liegen. Weiterhin wird bis heute häufig die alleinige Verhütungsverantwortung bei den potenziell schwängerbaren Menschen gesehen. So können besonders gewisse Männlichkeitsbilder so weit gehen, dass der schwängernde Part sich weigert, dem Verhütungswunsch der anderen Person nachzukommen. Auch mangelnde Aufklärung und geschlechtliche Rollenbilder können gerade bei jungen Menschen eine ungewollte Schwangerschaft verursachen.

Viele Gründe, die Menschen zum Abbruch einer Schwangerschaft bewegen, haben damit zu tun, dass diese Menschen gewisse Privilegien nicht genießen, die für das Aufziehen eines Menschen (in Deutschland) notwendig sind oder sogar aus ihrer gesellschaftlichen Position heraus dazu gezwungen sind, eine Schwangerschaft abzubrechen. Bereits hier wird klar, dass die Forderung über Selbstbestimmung über den eigenen Körper zu kurz greift. Eine Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft ist häufig gesellschaftlich bedingt und von dem abhängig, wie andere Menschen im Umfeld einer ungeplant schwangeren Person auf die Schwangerschaft reagieren.

Unterstützung…

Das führt uns zu dem nächsten, überaus wichtigen Punkt, nämlich, dass die Entscheidung zu einem Abbruch einer Schwangerschaft viel mit dem Umfeld einer Person zu tun hat. Wer vom Umfeld Unterstützung bekommt, wird eher die Schwangerschaft austragen, als wenn die Person von ihrem Umfeld sogar dazu gedrängt wird, eine Schwangerschaft abzubrechen. In einigen Umfeldern kann es auch sein, dass aus konservativen, rassistischen oder sonstigen gruppenbezogen menschenfeindlichen Motiven heraus die Schwangerschaft gar nicht erst ans Licht kommen darf – weil eine*r der Zeugungsbeteiligten nicht den Vorstellungen dieses Umfelds entspricht oder weil der Sex nicht nach Absolvierung bestimmter Rituale wie z. B. einer Hochzeit stattgefunden hat – und heimlich abgebrochen werden muss, da die Person vermutlich sonst aus der Gemeinschaft verstoßen würde oder schwer bestraft. Auch ob der schwängernde Part oder der*die Partner*in(nen) einer Person bereit oder dazu in der Lage ist oder sind, Verantwortung zu übernehmen, kann ausschlaggebend für diese Entscheidung sein.

… und Isolation

Genau dieser Aspekt, dass von der Unterstützung der schwangeren Person durch andere Menschen viel abhängt, führt uns zu einem weiteren Punkt, nämlich dass die schwangere Person diejenige ist, die nach Unterstützung suchen muss. Denn von schwangeren Personen wird erwartet, dass sie allein in erster und letzter Instanz für das Kind verantwortlich sind. Im Zweifelsfall bleibt die Fürsorge für das Kind an der schwangeren Person hängen. Alleine. Damit wird ein Kind zu einer enormen Belastung und Einschränkung in der Gestaltung des eigenen Lebens, kann die betroffene Person vollkommen überfordern und kann sogar das Überleben beider gefährden.

Von Anfang an hat der schwängernde Part sehr viel weniger Verantwortung zu tragen. Ob bei der Balz oder beim Sex und bei der Sicherstellung der Verhütung. Im Zweifelsfall kann er sich immer aus dem Staub machen. Das wird potenziell schwanger werden könnenden Menschen auch von Anfang an eingetrichtert. “Im Zweifel bist du der Depp.” Das liegt aber nicht nur daran, dass die Beteiligung am Zeugungsprozess – im Laufe der Schwangerschaft – beim schwängernden Part nicht so sichtbar ist wie bei der schwangeren Person. Spätestens ab der Geburt ist das ja auch bei der gebärenden Person nicht mehr sichtbar. Sondern auch daran, dass andere die schwangere Person in der Verantwortung sehen. Alternativ könnte mensch sich ja vorstellen, dass bei einer Schwangerschaft alle Familienmitglieder der schwangeren Person sich in der Verantwortung sehen. Oder das Dorf. Oder die Wohngemeinschaft. Oder der schwängernde Part und seine Familie. Hätte man ihm seit seiner Kindheit gesagt, dass wenn er mal eine Person schwängert, die Verantwortung im Zweifelsfall bei ihm oder bei seiner Familie liegt und nicht immer wieder Verständnis oder Zustimmung dafür mitbekommen hätte, wenn der schwängernde Part keine Verantwortung übernimmt, dann käme er vermutlich nur im schlimmsten Notfall auf die Idee, diese Verantwortung von sich zu schieben.

Zwar gibt es für ungewollt schwangere Personen Möglichkeiten, die Verantwortung für ein Kind abzugeben, indem sie es zur Adoption frei- oder in eine Pflegefamilie geben können. Das ist gesellschaftlich allerdings stark stigmatisiert. Die schwangere Person wird immer die bleiben, die ihr Kind im Stich gelassen hat – sehr viel mehr als der schwängernde Part – und das Kind wird immer das sein, das unerwünscht war und dessen Mutter4 es alleine gelassen hat.

Die völkische Kleinfamilie und die Rolle der Mutter

Sowieso wird die Rolle der gebärenden Person als leibliche Mutter extrem überhöht und zum wichtigsten Bezugspunkt und als perfekte Versorgungsinstanz für ein Kind verklärt. Diese Erwartungen setzen (ungeplant) schwangere Personen natürlich extrem unter Druck. Wenn sie den Eindruck haben, diesen Erwartungen nicht entsprechen zu können oder zu wollen, kann auch dies ein Grund für den Abbruch einer Schwangerschaft sein.

Auch die deutsche Kleinfamilie befördert die Konzentration der Verantwortung für das Kind bei der gebärenden Person und kann extrem einschränkend wirken. Bis heute ist es in Deutschland strukturell so angelegt, dass die gebärende Person mehr Schwierigkeiten hat, sich zum Beispiel in der Arbeitswelt zu behaupten und Karriere zu machen – wenn sie das möchte – als der schwängernde Part. Genauso ist es strukturell so angelegt, dass es Vätern schwerer gemacht wird, viel Verantwortung für ihr Kind zu übernehmen, wenn diese das möchten. Anderen Familienstrukturen5 wird es deutlich schwieriger gemacht, ein Kind großzuziehen.

Abgesehen von der einseitigen Verteilung der Verantwortung für das Kind bringt das Idealbild der deutschen Kleinfamilie einen weiteren höchst problematischen Punkt mit sich: Die deutsche Kleinfamilie ist nämlich nur dann perfekt, wenn es sich um eine blutsverwandte handelt, wenn also das Kind von den beiden Elternteilen gezeugt wurde. Damit wird auch völkisches Gedankengut weiter hochgehalten. Ein adoptiertes Kind wird immer Mitleid von den anderen erhalten, weil es nicht bei seinen leiblichen Eltern aufgewachsen ist. Und das ist der Punkt. Kinder können ruhig auch bei den Menschen aufwachsen, die es gezeugt haben, jedoch sollen Kinder, die mit anderen Bezugspersonen aufwachsen, nicht stigmatisiert werden, weil sie nicht oder entfernter mit ihren Bezugspersonen verwandt sind.

So ist auch immer dann eine ungeplant schwangere Person am meisten auf sich alleine gestellt, wenn sie keine Familie hat oder keine, mit der sie sich versteht. Maximale Wahlfamilie, die für viele in Deutschland vorstellbar ist, ist, eine*n Partner*in, für viele sogar nur eine*n Ehepartner*in zu haben.

Selbstbestimmung unter der Lupe

Bei Betrachtung all dieser Umstände wird klar, dass ein leichter, freier, sachlicher und informierter Umgang mit und Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht ausreicht, um Selbstbestimmung über den eigenen Körper zu erlangen. Die gesellschaftlichen Strukturen in Deutschland sind zu repressiv gegenüber dem schwangeren Körper, als dass Selbstbestimmung dann in greifbarer Nähe wäre. Wie wir sehen konnten, sind viele Entscheidungen zu Schwangerschaftsabbrüchen gesellschaftsbedingt. Viele Abbrüche müssten zum Beispiel nicht sein, wenn die Schwangerschaftsverhütung nicht von so vielen einschränkenden Faktoren bestimmt wäre. Wenn Rassismus, Ableismus und andere gruppenbezogen menschenfeindlichen Ansichten nicht wären. Wenn wir das Patriarchat bereits überwunden hätten sowie Kapitalismus und soziale Ungleichheit. Und wer wäre nicht froh, die Entscheidung zu einem Schwangerschaftsabbruch gar nicht erst treffen zu müssen? Freier, leichter, sachlich informierter Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen ist notwendig und wichtig. Keinen Grund zu einem Abbruch der Schwangerschaft zu haben, noch besser.

Die Unterwerfung des gebärfähigen Körpers

Die Ansichten unserer fundamentalistisch-christlichen Abtreibungsgegner*innen, die in etwas abgeschwächter Form bis heute die deutsche Gesellschaft bestimmen, haben ihren Anteil daran, dass Menschen einen Abbruch ihrer Schwangerschaft für notwendig halten, sei es die Überhöhung der Mutterrolle, toxische Männlichkeitsbilder, die immer noch mangelhafte Sexualaufklärung und der verkrampfte Umgang mit Sex, die Verklärung der blutsverwandten Kleinfamilie und die Reglementierung und Bevormundung des schwangeren Körpers:

Die Lösung ungeplanter Schwangerschaften war über Jahrhunderte hinweg eine starke Reglementierung und Tabuisierung von Sex und besonders eine starke Unterdrucksetzung und Bevormundung gebärfähiger Menschen. Hier wird auch deutlich, mit welchem Misstrauen und welcher Feindlichkeit gebärfähigen Menschen schon immer konfrontiert waren. Denn die meisten Maßnahmen der Unterdrückung betrafen sie, nicht die zeugungsfähigen Menschen. Ihre Unterdrückung schien die Lösung zur Vermeidung misslicher Lagen durch ungeplante Schwangerschaften. Ein solidarischer Umgang, der alle oder zumindest beide Beteiligte im Zeugungsprozess gleichermaßen mit der Verantwortung des entstehenden Kindes betraut, und auf Vertrauen und Gleichberechtigung statt auf Misstrauen und Unterdrückung basiert, war unvorstellbar. Bis heute hat sich daran nichts geändert, auch wenn es (in Deutschland) heute Möglichkeiten der Kontrolle über den eigenen Körper und der Steuerung von Schwangerschaften gibt, die sich vor einigen Jahrzehnten noch die Menschen kaum erträumen konnten.

Die Auseinandersetzung mit Schwangerschaftsabbrüchen zeigt, dass der Kampf gegen Bevormundung über den schwangeren Körper und für einen unkomplizierten, sachlichen und informierten Schwangerschaftsabbruch nicht losgelöst von einer umfassenden Gesellschaftskritik sein sollte. Der Kampf um Schwangerschaftsabbrüche, auch der Kampf um reproduktive Rechte jeder Art ist eingebettet in viele andere Kämpfe, seien es antikapitalistische, queere, antifaschistische, feministische, antirassistische usw. Dies nicht aus den Augen zu verlieren im Kampf um die komplette Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, ist wichtig, um irgendwann dem Ziel näherzukommen, dass alle Menschen nur dann, wenn sie es wollen, Kinder so bekommen können, wie sie es wollen und mit wem sie es wollen und es auch können.

Fußnoten

1Dieser Text bezieht sich auf den Pro Choice-Aktivismus und das Thema Schwangerschaftsabbruch speziell in Deutschland. Er versucht zwar viele Situationen in Deutschland abzudecken und das Thema intersektional zu betrachten, ist aber aus einer christlich-weißen deutschen Perspektive verfasst und möchte sicher keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität erheben.

2Außer natürlich bei letzteren, die mit medizinischem Kenntnisstand nichts mehr zu tun haben: wer davon ausgeht, dass bereits ein “vergeudetes” Spermium ein Schwangerschaftsabbruch ist, zeugt von einer lange Zeit vorherrschenden abwertenden Vorstellung des “Schoßes” der potenziell schwanger werden könnenden Person als Aufnahmegefäß für das bereits Mensch seiende Spermium.

3Quelle: UN-Hochkommisariat für Menschenrechte, zitiert in: Hamburger Arbendblatt: UN-Bericht. Zehntausende Frauen sterben jährlich bei Abtreibung. (2016) https://www.abendblatt.de/politik/article208310847/Zehntausende-Frauen-sterben-jaehrlich-bei-Abtreibungen.html, letzter Zugriff: 19.10.2018.

4Die Kursivierung soll auf die gesellschaftliche Zuschreibung der gebärenden Person als Mutter, zum Beispiel wenn diese dem Kind und seinem Umfeld nicht bekannt ist, unabhängig von ihrer eigenen Geschlechtsidentität, aufmerksam machen und den mit diesem Bild verbundenen Ansprüchen und Erwartungshaltungen.

5“Familie” im Sinne dieses Artikels bezeichnet die Solidarstruktur, die die Verantwortung für das Großziehen eines Kindes übernommen hat oder übernehmen will, unabhängig von Verwandtschaft.

Deutschlands Rechtsenthemmung – Über den Zusammenhang vom so genannten „Rechtsruck“ und Rassismus in Deutschland

Dieser Artikel erschien im September 2018 zuerst in der Lifestyleanarchist*in. Den Artikel könnt ihr auch als Broschüre herunterladen.

In ganz Europa werden Grenzen dichtgemacht, Rechte von Asylsuchenden ausgehebelt, Schiffe mit aus der Seenot Geretteten nicht an Land gelassen oder Menschen gar nicht erst aus der Seenot gerettet, Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte attackiert, Menschen in Lagern gefangen gehalten und in der “Zeit” wird darüber diskutiert, ob es sinnvoll sei, übers Mittelmeer Flüchtende vor dem Ertrinken zu retten1. Europa rückt nach rechts, so der Tenor, seit das mit der angeblichen “Flüchtlingskrise” begann. Und obwohl alle außerhalb von AfD und PEGIDA (und einigen aktuell weniger präsenten rechtsradikalen Organisationen) sich gegen einen “Rechtsruck” aussprechen, scheint selbiger unaufhaltsam. Wie ist das möglich?

Mit “Rassismusvirus” verseuchte Geflüchtete?

Problem, so tönt es aus allen politischen Lagern, sei die mangelnde Integrationsbereitschaft der angekommenen Geflüchteten. Die fehlende demokratische Grundbildung. Der Machismus. Die Kriminalität. Und natürlich der Islam beziehungsweise der “Islamismus”. Die deutsche Bevölkerung habe Angst, und das nicht zu Unrecht. Ihr Sicherheitsgefühl sei erschüttert. Sie hätten Angst um ihre materielle Sicherheit, Angst vor Gewalttaten und vor antidemokratischem Gedankengut. Dies führe anders gesagt zu einem “Rechtsruck” in der Bevölkerung. Die Anwesenheit der Geflüchteten führe also dazu, dass Menschen sich wieder mehr an extrem rechtem Gedankengut orientierten. Deshalb müsse mensch diese Sorgen ernst nehmen und entsprechend handeln, die “schlechten” Elemente, kriminelle, sonstwie “verhaltensauffällige” und “unberechtigterweise” hier seiende Menschen möglichst schnell und konsequent abschieben und die Integration der anderen forcieren. So forderte Regierungssprecher Steffen Seibert bereits 2010,

Ausländer[*innen] [sollten] möglichst schnell in die Wertevorstellungen, die Gesellschaft, den Arbeitsmarkt und die Sprache in Deutschland hineinfinden. Je besser uns das gelingt, desto mehr werden wir allen, die rechtsextreme oder noch schlimmere Gedanken haben, den Boden entziehen.2

Nach dieser Argumentation tragen die noch nicht integrierten Geflüchteten also selbst die Verantwortung für die immer stärkere Ablehnung ihnen gegenüber. Ihre Anwesenheit scheint extrem rechtes, also auch rassistisches Gedankengut zu befördern. Rassismus und extrem rechtes Gedankengut kann also nach (mehrheits-)gesellschaftlichem Konsens nur bekämpft werden, indem die Menschen, die von den nach rechts gerückten Menschen als störend empfunden werden, verschwinden. Die deutsche Bevölkerung wird offenbar immer dann von rechtem Gedankengut und Rassismus befallen, wenn sie auf Leute trifft, die nicht so sind wie sie selbst. Offenbar tragen geflüchtete und sonstwie “auffällige” Menschen einen “Rassismusvirus” bei sich, der dann die deutsche Bevölkerung befällt. Könnte es da nicht alternativ so sein, dass Deutschland ein größeres Rassismusproblem hat als bisher angenommen? Und was hat Rassismus mit dem “Rechtsruck” zu tun?

Integration und Assimilation

Beleuchten wir erst einmal die Forderung nach Integration. “Integration” bedeutet im eigentlichen Sprachsinn die Aufnahme von Menschen in eine soziale Ordnung, d. h. die Gesellschaft, zu der eine Person dazustößt, hat dafür Sorge zu tragen, dass diese Person in ihrer Mitte aufgenommen wird. Die heutige Forderung nach Integration richtet sich aber nicht an die deutsche Gesellschaft, sondern an die Geflüchteten und sonstige Migrant*innen selbst, sowie zugleich – und das entbehrt jedweder Logik – auch an nicht weiße Deutsche. Wie Steffen Seibert und die meisten gesellschaftlich relevanten Akteur*innen fordern, sollten Geflüchtete möglichst schnell deutsch lernen und sich an die hier herrschende Werteordnung anpassen und zwar so sehr, dass extrem Rechten und Rassist*innen der “Boden [entzogen]” wird.

Früher wurde diese Form der Anpassung “Assimilation” genannt. Von dazustoßenden Menschen wird erwartet, dass sie dafür Sorge tragen, dass sie sich von den anderen Menschen in dieser sozialen Ordnung nicht mehr unterscheiden, also durch nichts “auffallen”. Diese Forderung ist in vielerlei Hinsicht unmöglich zu erfüllen, da sie eine Homogenität einer Mehrheit suggeriert, die es nicht gibt. Nicht nur Steffen Seibert und die Bundesregierung haben heutzutage ein solches Verständnis von Integration, sondern dieses Verständnis scheint Konsens bei den meisten gesamtgesellschaftlich relevanten Akteur*innen in Deutschland zu sein.

Laut Steffen Seibert scheint Assimilation auch die Lösung für Rassismus und Rechtsextremismus zu sein. Nach seiner Logik muss dafür gesorgt werden, dass es niemanden mehr gibt, an dem*der sich Rassist*innen stören könnten. Die Opfer von Hass und Benachteiligung ziehen laut ihm berechtigterweise den Hass anderer Menschen auf sich und sollten sich schleunigst so verändern und wie die rassistischen Menschen werden, damit es für diese Menschen keinen Grund mehr gibt, sie zu hassen. Dabei bedenken Seibert und all die anderen, die Assimilation als Lösung für Rassismus und Rechtsextremismus halten, wohl nicht, dass für eine perfekte Assimilation an deutsche weiße Rassist*innen auch weiß werden nötig wäre, strukturell eine Assimilation für viele also gar nicht möglich ist.3

Die Verbreitung von Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland

Wie sieht es denn allgemein in Deutschland mit Rassismus aus? Als 2002 zum ersten Mal die Leipziger “Mitte”-Studie4 durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass circa 10% der Deutschen explizit rechtsextreme Einstellungen haben und circa 30% ausländer*innenfeindlich sind5. 2016 dann stellte die “Mitte”-Studie im Hinblick auf das Erstarken der AfD und die steigende Anzahl an Angriffen auf Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte fest:

Die aktuelle Studie fördert angesichts dessen einen überraschenden Befund zutage: Hinsichtlich der Verbreitung der klassischen Einstellungen, die Rechts-extremismus charakterisieren, fällt die Steigerung von Vorurteilen nur gering aus. […] Die jüngsten Veränderungen im Parteiensystem zeigen weniger einen neuerlichen Anstieg fremdenfeindlicher und autoritärer Einstellungen […] an, vielmehr findet das seit Jahren vorhandene […] Potenzial jetzt eine politisch-ideologische Heimat.6

Dabei konstatiert die “Mitte”-Studie, dass der Grad der Politisierung derjenigen, die rechtsextrem und gruppenbezogen menschenfeindlich eingestellt sind, über die letzten Jahre hinweg angestiegen ist, ebenso der Grad der Radikalisierung. Es ließe sich jedoch auch bei denen, die Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ablehnen, eine größere Politisierung und ein größeres Einmischen feststellen.7

Lippenbekenntnis Antirassismus

Dennoch gibt es wenig Grund zur Freude. Die Studie legt Menschen gruppenbezogen menschenfeindliche Aussagen vor, denen diese dann mehr oder weniger zustimmen oder die sie mehr oder weniger ablehnen können. Es werden also nur Aussagen von Menschen bewertet, nicht ihre Handlungen. Zusätzlich sind die Fragen nicht so subtil gestellt, als dass die befragten Personen nicht erahnen können, was der Hintergrund der Befragung ist. Mit dieser Studie kann eher der Grad der Tabuisierung gewisser Aussagen gemessen werden als die tatsächlichen Ansichten von Personen. Eine Person kann einer bestimmten Meinung sein, aber wissen, dass diese “verboten” ist und entsprechend bei der Befragung das angeben, von dem sie ausgeht, dass es als positiv bewertet wird. So ist ein deutlich höherer Anteil an rassistisch denkenden und/oder handelnden Menschen in Deutschland möglich wenn nicht sogar wahrscheinlich.

Insbesondere die Diskrepanz zwischen Worten und Taten ist ein häufig beobachtetes Phänomen. Denn auch wenn eine pauschale Verunglimpfung von “Ausländer*innen” inzwischen weitgehend tabuisiert ist und in den Studien der letzten Jahre stark zurückgegangen ist, so ist doch eher von einem Lippenbekenntnis zu reden als von einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit Rassismus, bei der den Betroffenen ernsthaft zugehört wird. So sind die Reaktionen auf die Rassismus-Erfahrungen in Deutschland, die über den Hashtag #metwo8 berichtet wurden, von scharfer Ablehnung, Unterstellungen, Verdrehen des Gesagten, Leugnung bzw. Absprechen der geschilderten Erfahrungen, rassistischen oder pauschalisierenden Gegenvorwürfen – wie sich nicht integrieren zu wollen – und dem Vorwurf von “reverse racism”9 geprägt.10 Gleiches ließ sich auch bei den Rassismus-Vorwürfen des ehemaligen Nationalspielers Mesut Özil gegen den DFB und seine Fans beobachten, die Initialzündung für den #metwo-Hashtag waren.11

Diejenigen, die am meisten Gehör bekamen und bekommen, waren und sind Weiße oder Schwarze und People of Colour, die die geäußerten Kritiken für übertrieben halten. Dabei gibt es viele andere Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen, die seit Jahren zu Rassismus in Deutschland forschen und Rassismus dokumentieren und wenig bis kein Gehör dafür bekommen.12 Daniel Raecke spricht von einer Tabuisierung von Rassismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die zu dem paradoxen Effekt geführt habe, dass Rassismus zu so einem schwerwiegenden Vorwurf wurde, dass die Benennung desselben in die Kritik gerät anstatt das benannte rassistische Verhalten.13 Ich würde zusätzlich sagen, dass zwar Rassismus an sich verurteilt wird, aber es keine Bereitschaft gibt, sich selbstkritisch mit Rassismus tatsächlich auseinanderzusetzen und den Betroffenen zuzuhören und ihre Berichte und Vorwürfe als möglich in Betracht zu ziehen. Anders formuliert verbittet sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft Rassismusvorwürfe, da sie bereits erkannt habe, dass Rassismus doof ist. Dass sie sich weiter rassistisch verhalte, sei gar nicht möglich, schließlich sei sie ja gegen Rassismus.

Faktor Staatsbürger*innschaft und Etabliertenvorrechte

Diese Tabuisierung schlägt sich auch in diversen Studien nieder: Pauschale Abwertungen aller “Ausländer*innen” finden sich deutlich seltener als noch 2002. Dafür hat sich der Rassismus “differenziert”: einzelne Gruppen werden mit mehr Abwertung betrachtet, zum Beispiel Sinti und Rom*nija, Muslima*e oder Geflüchtete.14 Im Hinblick auf die beiden letzteren wird das häufig mit “Etabliertenvorrechten” begründet, dass also die, die “zuerst da waren”, mehr Rechte haben sollten als die, die neu dazustoßen. Dieses Phänomen gruppenbezogener Menschenfeind­lich­keit findet bei allen Studien zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit15 seinen Platz, hat es aber bisher nicht als Diskriminierungsform in den Diskurs der Mehrheitsgesellschaft geschafft. Damit werden Etabliertenvorrechte nicht mit Rassismus oder Rechtsextremismus in Verbindung gebracht und sind damit nicht vom Tabu des Rechtsextremismus oder des Rassismus betroffen.16 Damit einhergehend ist besonders die Diskriminierung aufgrund von Staatsbürger*innenschaft nicht als eine solche (an-)erkannt:

In modernen Gesellschaften stehen solch willkürliche Benachteiligungen [birthright lottery17] prinzipiell in der Kritik. Die angeborenen Ungleichheiten des Geschlechts etwa, der Rasse oder auch der sozialen Herkunft – die berühmten Diskriminierungskategorien gender, class und race – fordern zumindest den normativen Anspruch dieser Gesellschaften nach politischen Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung und des sozialen Ausgleichs heraus. Für den nicht weniger geburtszufälligen Ungleichheitsfaktor Staatsbürgerschaft gilt dieser Anspruch hingegen nicht. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall: Die gegebene oder aber fehlende Staatsbürgerschaft ist hier ein anerkannter und wirkmächtiger Grund für rechtliche wie soziale Besser- oder Schlechterstellung.18

Die Diskriminierung aufgrund von Staatsbürger*innenschaft tritt auch in einem anderen Kontext zutage: Wer keine deutsche Staatsbürger*innenschaft hat, hat in Deutschland kein politisches Mitbestimmungsrecht und keine Chance, dass Politiker*innen auf ihre*seine Sorgen und Wünsche eingehen, da Menschen ohne deutsche Staatsbürger*innenschaft sie nicht wählen können. Hier wird der Rassismus eines jeden (demokratischen) Nationalstaates, aber besonders des deutschen mit seinem Abstammungs-Prinzip deutlich: Wer nicht deutsche*r Staatsbürger*in ist, auch wenn er*sie noch so lange in Deutschland wohnt, hat kein Mitbestimmungsrecht und keine Chance, als gleichberechtigte*r Akteur*in im politischen Diskurs wahrgenommen zu werden. Das ist im Hinblick auf Geflüchtete besonders deutlich: sie werden nicht als Menschen mit einer Stimme und mit dem Recht, sich einzumischen, betrachtet. So ist es kein Wunder, dass deutsche Politiker*innen so sehr auf die “Sorgen und Nöte” der mehrheitsdeutschen Wähler*innen, auch wenn diese noch so rassistisch sind, eingehen, aber nicht auf die von Menschen, die die deutsche Staatsbürger*innenschaft nicht besitzen. Immerhin, seit 2000 ist es unter gewissen Bedingungen möglich, auch als eingewanderte Person mit nichtdeutscher Staatsbürger*innenschaft beziehungsweise solchen Eltern eine deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten. Das schlägt sich durchaus auch im politischen Diskurs nieder. Eine Randposition bleibt es aber dann doch, wie jede Position einer marginalisierten Minderheit. Zusätzlich haben Menschen, die nicht mindestens acht Jahre erlaubterweise in Deutschland leben und so keine Möglichkeit haben, die deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten, immer noch keine politische Stimme. Auch nehmen viele den Wechsel zur deutschen Staatsbürger*innenschaft nicht vor, weil sie dafür ihre alte Staatsbürger*innenschaft aufgeben müssten. Damit ist strukturell angelegt, dass eingewanderten Menschen die Entscheidung dazu besonders schwer gemacht wird.19

Zusammendenken von Rassismus und Rechtsradikalismus

Ein weiterer Faktor, der die Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft mitbestimmt, ist das Zusammendenken von Rassismus und Rechtsradikalismus.20 Wer sich selbst nicht als rechtsradikal verortet oder verortet wird, sprich sich nicht in einer (neo-)nationalsozialistischen oder sonstigen rechtsradikalen Organisation oder Umfeld bewegt, versteht sich nicht als rassistisch und wird auch häufig nicht als rassistisch wahrgenommen. Damit sind gerade Formen von Rassismus außerhalb eines rechtsradikalen Spektrums, wie zum Beispiel Rassismus in staatlichen Institutionen oder Rassismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, kaum in der öffentlichen Wahrnehmung präsent und werden auch sehr konsequent negiert, wie sich gerade auch bei den NSU-Morden und dem darauffolgenden Prozess sehr deutlich gezeigt hat.21 Obwohl sich im Zusammenhang mit den NSU-Morden der Rassismus der Behörden wie der Medien zweifellos und offensichtlich gezeigt hat, ist bis heute gerade dieser Aspekt von staatlicher ebenso wie ziviler Seite kaum aufgearbeitet worden.22

Racial Profiling

So zeigt sich sogar gesetzlich fixierter Rassismus23 gerade auch in der “verdachtsunabhängigen Kontrolle”, die Polizist*innen besonders im Bereich von Bahnhöfen durchführen, meist zur Feststellung unerlaubt nach Deutschland Eingereister, aber auch auf der Suche nach illegalisierten Drogen oder Verstößen gegen die Hausordnung von Bahnhöfen, so verdachtsunabhängig nicht. Polizist*innen müssen selektiv vorgehen und dürfen selbst entscheiden, wen sie für verdächtig genug halten, um eine Person zu kontrollieren – und greifen dafür, bewusst oder unbewusst, oft auf auf rassistische und andere Stereotype und Vorurteile – gerne als “Erfahrung” verkauft – zurück.24 Gerade bei der Suche nach unerlaubt Eingereisten sucht die Polizei gezielt nach Menschen, die für sie “ausländisch” aussehen und orientiert sich da besonders an der Hautfarbe oder an sonstigen phänotypischen Merkmalen.25 Es gibt unzählige Berichte von Schwarzen und People of Color in Deutschland über die unzähligen Polizeikontrollen, die sie über sich ergehen lassen müssen.

Deutschsein ist weiß

Eine weitere spezifische Form des deutschen Rassismus, für die es keine Wahrnehmung gibt und die in der Berichterstattung immer wieder reproduziert wird, ist die Assoziation von “Deutschsein” mit weißsein. Wer in den Augen der Berichtenden nicht weiß ist, kann nicht “deutsch” sein. Sofort ist die Rede von “Migrant*innen”, von “Menschen mit Migrationshintergrund”, von Menschen “(nord-)afrikanischen Aussehens”. Wer Schwarz ist, sieht sich immer wieder mit der Frage nach der wirklichen Herkunft konfrontiert. Auch wenn die eigene Familie seit Generationen und Jahrhunderten in Deutschland – einem identitären Konstrukt, das auch erst seit 1871 besteht – lebt, ist es für die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht möglich, sie als Deutsche zu akzeptieren.26 Dass das weiß sein als “normal” gesetzt wird, zeigt sich auch bei Formulierungen, dass Menschen “anderer Hautfarbe” oder “anderen Aussehens” dies oder das gemacht haben oder ihnen angetan wurde. Damit sind nie Weiße gemeint. Auch bei der Berichterstattung Ende August zu den Angriffen von Neonazi-Hools in Chemnitz auf Menschen, die diese Neonazis nicht als Deutsche identifiziert hatten, wird die Kategorisierung der Nazis in der Berichterstattung unkritisch übernommen und von Angriffen auf “Migranten”, “Geflüchteten” und “Ausländern” berichtet.27

Die fortschrittliche Gesellschaft

Ein weiterer Aspekt des in Deutschland weit verbreiteten Rassismus, der diesmal aber die gesamte “westliche, freiheitliche” Welt betrifft, ist die Vorstellung einer “fortgeschrittenen, entwickelten” Gesellschaft, im Gegensatz zur “Dritten Welt”, zu den “Entwicklungsländern”. Hier setzt sich der althergebrachte weiße Kolonialismus und der weiße Überlegenheitsgedanke fort. Entsprechend werden gerade Geflüchtete, aber auch Muslima*e und damit natürlich auch muslimische Geflüchtete als gefährlich für die deutsche Demokratie betrachtet, weil sie ja aus “rückschrittlichen” Gesellschaften kämen bzw. “rückschrittliche” Werte vertreten würden. Die Forderung, dass Menschen, die in die deutsche Gesellschaft aufgenommen werden wollen, sich an die “demokratischen” und “freiheitlichen Werte” dieser Gesellschaft anzupassen haben und sonst keinen Platz hier hätten, legt bei 10% rechtsextremen deutschen Staatsbürger*innen und um die 20 % weiteren deutschen Staatsbürger*innen, deren Überzeugungen für Rechtsradikalismus anknüpfungsfähig sind, doppelte Standards an, verklärt die “eigene” “freiheitliche” Gesinnung und unterstellt allen “anderen” eine autoritäre, “rückschrittliche” Gesinnung.

Diese Überheblichkeit und Geschichtsvergessenheit ebenso wie der Rassismus zeigte sich besonders deutlich bei der 2007 vorgenommenen Einschätzung des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg zu den mutmaßlichen Täter*innen der NSU-Morde, dass

[v]or dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, abzuleiten [ist], dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.”28

Obwohl Angehörige von Anfang an darauf hinwiesen, dass Neonazis hinter den Morden stecken könnten, wollte die Polizei davon nichts wissen, rechtfertigte dies mit absurden Begründungen wie der gerade genannten und rassistischen Stereotypen gegenüber den Opfern, die die Polizei in mafiöse Verwicklungen ver-strickt vermutete. Und das 62 Jahre nach der Niederschlagung des NS-Regimes und der Verübung des Holocaustes und circa 15 Jahre nach den Pogromen gegen (vermeintlich) zugewanderte Menschen in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen, Mölln und anderen Attacken Anfang der 90er Jahre, bei denen innerhalb von vier Jahren 56 Menschen getötet wurden. Übrigens wurden ab 1990 bis heute 193 Todesopfer rechter Gewalt gezählt, sowie circa 600 weitere Mordversuche.29

Zuwanderungsland Deutschland wider Willen30

Auch im Umgang mit Asylsuchenden zeigt sich der Rassismus, der hier mit Etabliertenvorrechten Hand in Hand geht, sehr deutlich. Nach den Erfahrungen von Hunderttausenden aus Nazi-Deutschland geflüchteten Menschen, überwiegend Jüdinnen*Juden, die Schwierigkeiten hatten, von anderen Ländern aufgrund sehr restriktiver Asylbestimmungen aufgenommen zu werden, wurde im Grundgesetz der BRD das Recht auf Asyl bei politischer Verfolgung festgeschrieben. In den ersten Jahrzehnten des Bestehens der BRD wurde dieses Asylrecht wenig in Anspruch genommen. Jedoch wurde bereits mit den Debatten über die sogenannten “Gastarbeiter*innen”31 klar, dass es für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht möglich schien, zugezogene Menschen anderer Nationalitäten in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Hier kam zum ersten Mal die bis heute andauernde und weit verbreitete Ansicht auf, es gebe “nützliche” Ausländer*innen, die es als gute Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen gelte und die anderen, die es fernzuhalten gelte. Aufgrund dessen, dass zu diesem Zeitpunkt Arbeiter*innen gebraucht wurden. kam der Rassismus gegenüber den “Gastarbeiter*innen” nicht unverhohlen zum Ausdruck, sondern eher in Form von Paternalismus und Überheblichkeit, sowie in Debatten über die Integrierbarkeit beziehungsweise Nicht-Integrierbarkeit insbesondere von Türk*innen. 1982, circa zehn Jahre nach dem Anwerbestopp von Gastarbeiter*innen, 1982, deklarierte die Bundesregierung, “Deutschland [sei] kein Einwanderungsland” und beschloss, den Anteil an Ausländer*innen in der BRD spürbar zu reduzieren. Spätestens ab da gilt die Zuwanderung in Deutschland als problematisch, als Bedrohung für die deutsche Identität und für die soziale wie körperliche “Sicherheit” von Deutschen.32

In der DDR wurden zur gleichen Zeit Vertragsarbeiter*innen insbesondere aus den “Bruderstaaten” Vietnam und Mosambik angeworben. Abgesehen von offiziellen Veranstaltungen zelebrierter Völkerfreundschaft gab es eine strenge Trennung der Vertragsarbeiter*innen von der restlichen Bevölkerung, Kontakte zu den Vertragsarbeiter*innen mussten gemeldet werden. Die Vertragsarbeiter*innen lebten in Sammelunterkünften, unter prekären sozialen und arbeitsrechtlichen Bedingungen. Schwangere Vertragsarbeiterinnen zum Beispiel mussten entweder die Schwangerschaft abbrechen oder wurden abgeschoben. Jeglicher öffentlicher Diskurs über das Zusammenleben von einheimischer Bevölkerung und Vertragsarbeiter*innen wurde unterdrückt. Insgesamt machten Ausländer*innen weniger als ein Prozent der Bevölkerung in der DDR aus.33

Der Umgang mit zugewanderten Menschen in beiden deutschen Staaten zeigt den damals immer noch tief sitzenden Rassismus der Menschen, der allerdings aus unterschiedlichen Gründen noch nicht so stark zum Ausbruch kam. Ab 1989, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der daraus entstehenden Fluchtbewegung vieler Menschen auch in die neu vereinigte Bundesrepublik, zeigte sich der Rassismus immer unverhohlener. Die Union hatte seit Jahren – mit der wachsenden Zahl an Asylbewerber*innen auch schon vor 1989 – gegen “Asylbetrug” agitiert und eine Grundgesetzänderung des Asylrechtsparagra­fen gefordert. Lange Zeit hatten sich SPD und Grüne dagegen gesperrt. Parallel zu der sich zuspitzenden feindlichen Stimmung gegenüber Asylbewerber*innen kam es zu ersten Überfällen auf Asylunterkünfte, die erst kurz zuvor von der Regierung eingeführt worden waren, um die Menschen von einem Asylantrag abzuhalten.

Die rassistische Gewalt gegenüber Asylbewerber*innen, aber auch sonstigen Migrant*innen und als nicht-deutsch Wahrgenommenen gegenüber eskalierte in den folgenden Jahren. 1991 kam es zu 6 Tage andauernden Pogromen gegen ein Wohnheim für Vertragsarbeiter*innen und eine Asylunterkunft in Hoyerswerda. Die von dort geretten Arbeiter*innen wurden in der Folge abgeschoben. Es folgten unzählige Angriffe auf Asylunterkünfte, Wohnheime für Vertrags- oder Gastarbeiter*innen und auf Menschen, die für die Angreifer*innen nicht deutsch genug schienen. 1992 wurde in Rostock-Lichtenhagen vier Tage lang unter Beifall von circa 3000 Menschen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen von mehreren hundert Menschen angegriffen und das danebenliegende Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen angezündet und von der Polizei im Stich gelassen. Weitere Pogrome, Brandanschläge auf Asylunterkünfte und Angriffe auf und Ermorderungen von Menschen, die für ihre Angreifer*innen nicht deutsch genug waren, folgten.

Nach dem Brandanschlag in Mölln, bei dem drei Menschen getötet und neun schwer verletzt wurden, die bereits seit Jahren in Deutschland lebten, erhob sich erstmals breiter Protest in der Bevölkerung, in Form von Demonstrationen und kilometerlangen Lichterketten, bei denen gegen “Ausländerfeindlichkeit” protestiert wurde. Jedoch zogen in diesen Jahren auch die beiden offen rechtsradikalen Parteien Die Republikaner und die DVU (Deutsche Volksunion) in den 90er Jahren in insgesamt fünf Landtage ein und erhielten circa 5-12% der Stimmen.

Zur selben Zeit, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, siedelten sich viele deutschstämmige Menschen, sogenannte “Aussiedler*innen” und besonders Russlanddeutsche in Deutschland an. Gab es 1990 noch Misstrauen gegenüber diesen Menschen, fokussierte sich dann der Hass auf die “rein ausländischen” Zugezogenen. 3 Millionen Russlanddeutsche siedelten sich im selben Zeitraum in Deutschland an und wurden vergleichsweise “wie von einem Schwamm [absorbiert]”34. Die Geschichte der Russlanddeutschen wird – auch wenn statistisch die Angleichung an den Rest der deutschen Bevölkerung noch nicht ganz abgeschlossen ist – als Erfolgsgeschichte betrachtet.35 Dass die Integration der “Russlanddeutschen” dermaßen problemlos vonstatten ging, lässt vermuten, dass materielle Befürchtungen aufgrund neuer “Konkurent*innen” eher Vorwand oder Rechtfertigung rassistischer Vorurteile sind als dass eine tatsächliche materielle Konkurrenz Rassismus verursacht.36

In Reaktion auf die Pogrome setzte die CDU 1993 ihre Forderung nach einer Änderung des Grundgesetzartikels zum Asylrecht durch. Im sogenannten “Asylkompromiss” wurde eingeführt, dass nur Leute, die aus einem Land einreisen, indem die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht gelten, in Deutschland Asyl beantragen können. Faktisch wurde damit das Recht auf Asyl abgeschafft, denn Deutschland war als Binnenland inmitten von Ländern, für die diese Konventionen gelten, auf den allermeisten Fluchtwegen nicht mehr erreichbar. Nur wer per Flugzeug direkt nach Deutschland einreiste, konnte noch Asyl beantragen. Daraufhin – und auch weil sich die politische Lage in vielen Ländern beruhigte – ging die Zahl der Einwandernden und Asylbewerber*innen stark zurück.

Der Umgang von Politik und Medien mit Asylbewerber*innen und Zugewanderten in den 1990ern trug vermutlich dazu bei, dass sich bundesweit Neonazis organisierten und radikalisierten und Gewalt- und Terrorakte gegenüber Menschen, die nicht in ihr Weltbild passten, zu einem Teil ihres Handlungsfeldes machten. So formierte sich der Nationalsozialisten Untergrund NSU Ende der 90er Jahre aus diesen Strukturen heraus37, ebenso viele weitere weniger bekannte neonationalsozialistische Gruppen, die Bombenanschläge durchführten und Menschen ermordeten38.

Ende der 1990er war von der Skandalisierung von “Ausländer*innenkriminalität” geprägt. Gleichzei­tig kam mit Beginn der rot-grünen Koalition ab 1998 auch der Begriff der “multikulturellen Gesellschaft” auf und wurde heiß diskutiert. Der Kurs der Regierung änderte sich im Hinblick auf Migration und Asyl. Das Staatsbürger*innenschaftsrecht wurde so weit geändert, dass Einwander*innen die Möglichkeit bekamen, die deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erlangen39. Damit wurde auch das bis dahin geltende nur vererbbare Staatsbürger*innenrecht (ius sanguinis), das seit 1913 mehr oder weniger unverändert war, wenn auch nicht abgeschafft, so zumindest aufgeweicht40.

Des Weiteren rief die rot-grüne Koalition in Reaktion auf den 2000 verübten Anschlag auf eine Synagoge in Düsseldorf zum “Aufstand der Anständigen” auf. Zahlreiche Demonstrationen wurden organisiert und Initiativen gegen Rechtsextremismus ins Leben gerufen. 2005 wurde ein neues Zuwanderungsgesetz verabschiedet, das Zuwanderung wie auch seine Begrenzung gesetzlich festschrieb.

Auch wenn vordergründig auch durch den Kurswechsel in der Regierung sich die Lage im kommenden Jahrzehnt zu entspannen schien, so begann der NSU in dieser Zeit seine Mordserie, die lange Jahre von den Medien rassistischerweise als “Döner-Morde” bezeichnet wurde und die Aufdeckung des NSU bei Verfassungsschutz und Polizei mindestens durch rassistisch motiviertes Totalversagen, teilweise mit Sicherheit auch bewusst verhindert wurde, sodass er über zehn Jahre lang ungestört agieren konnte. Bis heute wird die Aufklärung bewusst sabotiert und verhindert, institutioneller Rassismus geleugnet, der Fokus lediglich auf Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gerichtet. Von einem ganzen Netzwerk, das sie unterstützt haben muss, wollen die ermittelnden Behörden nichts wissen.

Zudem geriet der Islam seit den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 immer mehr in den Fokus der deutschen Mehrheitsgesellschaft und steigerte sich zu antimuslimischem Rassismus. So änderte sich seit den 80er Jahren die Bezeichnung von “Ausländern” über “Menschen mit Migrationshintergrund” zu “Moslems” im Jahr 2001. Während vor 2001 Gefahr nur von denjenigen auszugehen schien, die sich nicht anpassen wollten, wurden nun auch assimilierte Menschen zur potenziellen Gefahr stilisiert, als fundamentalistische Terrorist*innen, die auf den richtigen Augenblick warteten, sich zu enttarnen.41 Seitdem gibt es Diskussionen darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht und ob Muslime in den “demokratischen” Staat Deutschland integrierbar seien.

Back to the 90s – oder nicht?

Seit 2015 spitzt sich die Lage wieder auf eine Weise zu, die so sehr an die 90er Jahre erinnert, dass es eine*n schwindelt: Januar 2015 wurde unter einer im Bau befindlichen Asylunterkunft eine Rohrbombe gefunden mit der Aufschrift “Tod IS”, umrahmt von zwei Hakenkreuzen.42 Medienresonanz gleich null. Danach Brandanschläge auf Asylunterkünfte, Pogrome in Tröglitz, Freital und Heidenau, in Bautzen, und erst kürzlich im August 2018 in Chemnitz. Die rechte Gewalt eskaliert wieder.

Doch nicht nur das: Die CSU beschließt 2016 ein Bayerisches Integrationsgesetz, das die Anpassung an eine bayerische Leitkultur gesetzlich festschreibt, 2018 dis-kutiert sie bei einer Klausurtagung die “finale Lösung der Flüchtlingsfrage”. Es wird gegen integrationsunwillige, “kriminelle”, für die Deutschen und besonders für die “deutschen Frauen” gefährliche, das Sozialsystem ausnutzen wollende, arbeitsunwillige, muslimische und damit “rückständige”, demokratiefeindliche Geflüchtete gehetzt. Die EU beschließt die Schließung ihrer Grenzen und verhindert die private Seenotrettung für übers Mittelmeer Flüchtende.

Eine Sache, die sich von den 90ern unterscheidet: die AfD. Sie zeigt sich immer offener rechtsradikal und gewinnt dabei immer mehr an Zuspruch. Aktuell kommt sie auf ca. 15-17 % Wähler*innenstimmen und liegt damit gleichauf mit der SPD43. Sie sitzt seit 2017 mit 12,6 % im deutschen Bundestag, als erste offen rechtsradikale Partei seit Gründung der Bundesrepublik. In den bayerischen Landtag wird sie im Oktober diesen Jahres bei der bevorstehenden Landtagswahl mit Sicherheit einziehen, erste Stimmen aus der CSU werden laut, mit der AfD zu koalieren. Damit könnte die AfD die erste offen rechsradikale Partei sein, die an einer Regierung beteiligt ist44. Noch nie konnte die organisierte Rechte das vorhandene rassistische, rechtsradikale und autoritäre Potenzial, das in der deutschen Bevölkerung schlummert, so gut kanalisieren, organisieren und politisieren.

Da bleibt es ein kleiner Trost, dass auch diejenigen, die sich gegen Rassismus und Rechtsradikalismus aussprechen, lauter und wacher sind als in den 90er Jahren, organisierter, politisierter, entschiedener.

Rechtsenthemmung statt Rechtsruck

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Haben wir es mit einem “Rechtsruck” zu tun? Und haben die Geflüchteten Anteil an dieser Entwicklung? Seit 2015 steigt die Gewalt gegen Geflüchtete und Menschen, die für gewisse Leute nicht “deutsch genug” zu sein scheinen, an. Seit 2015 steigen auch die Asylbewerber*innenzahlen an und erreichten im August 2015, als Angela Merkel eigenmächtig die deutschen Grenzen öffnen ließ, ihren Höhepunkt. Damals staunten viele über die deutsche “Willkommenskultur”. Von der ist heute nicht mehr viel zu sehen. Sind also doch die Asylbewerber*innen daran schuld? Haben sie es sich “verspielt”, sind sie zu schwierig, als dass es möglich sei, sie in Deutschland zu integrieren?

Wohl kaum.

Ich habe im Artikel den deutschen Rassismus in vielen seiner Facetten vorgestellt und seine Entwicklung in den letzten Jahrzehnten skizziert. Der Diskurs um “kriminelle”, integrations­unwillige, und antidemokratische Gastarbeiter*innen/Ausländer*innen/Türk*in­nen/Men­schen mit Migrationshintergrund/Muslima*e/Asylbewerber*innen/Geflüchtete/ Migrant*in­nen etc. ist Jahrzehn­te alt.

Die aktuellen Entwicklungen zeigen auf, dass trotz scheinbarer Bemühungen im Kampf gegen Rechtsradikalismus besonders Anfang der 2000er Jahre, nur – wenn überhaupt – an der Oberfläche gekratzt wurde. Wir sind weit davon entfernt, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft sich ernsthaft mit ihren Privilegien und mit ihrem eigenen rassistischem Verhalten auseinandersetzt. In einer Gesellschaft, in der bis heute Rassismus und Rechtsradikalismus damit bekämpft werden sollen, dass die Grenzen dicht gemacht werden, eingewanderte Menschen und Menschen, die nicht ins Mehrheitsbild passen, zur Assimilation an diese Mehrheit gezwungen werden, das Asylrecht eingeschränkt oder sogar außer Kraft gesetzt wird und die Schuld bei den Menschen gesucht wird, die Opfer rechtsradikaler und rassistischer Anfeindungen werden, in einer Gesellschaft, in der nach rassistischen Pogromen wie in Chemnitz Ende August 2018 von der “Selbstjustiz besorgter Bürger” die Rede ist45, kann von mehr als einem Lippenbekenntnis gegen Rassismus und Rechtsradikalismus nicht die Rede sein.

Aus diesen Ergebnissen heraus muss der Begriff “Rechtsruck” mit Vorsicht gebraucht werden. Wir erleben eine klare Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses nach rechts – allerdings nicht zum ersten Mal. Tabus der letzten Jahre fallen wieder. Jedoch standen sie schon immer auf wackligem Terrain. Insbesondere im Hinblick auf den rassistisch geprägten Diskurs bezüglich nach Deutschland einwandernden Menschen ist eher von einer Kontinuität mit Ausschlägen nach oben zu sprechen, da nie ein Stand erreicht war, der antirassistisch genannt werden kann. Außerdem werden keine Menschen aufgrund ihrer materiellen Sorgen und befürchteter wirtschaftlicher Schwierigkeiten – zu tatsächlichen Einschränkungen kam es ja bisher nicht – neu zu rechten Rassist*innen, sondern nie ausgemerzte rassistische Vorbehalte und Haltungen werden angefacht, politisiert, radikalisiert und kanalisiert. Das rassistische und rechtsextreme Potenzial, das schon immer in der deutschen Bevölkerung geschlummert hat und das nie wirklich angegangen wurde, kommt so klar zum Vorschein wie lange nicht mehr.

Es kann nicht die Rede von einem “Rechtsruck” sein, sondern eher von einer “Rechtsenthemmung”, dass also unterdrücktes oder gehemmtes rechtes Gedankengut gesellschaftsfähiger wird, sich politisiert und organisiert. So wird auch klar, dass die besonders medial und (bildungs-)politisch erfolgte Arbeit gegen Aspekte von gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit mehrheitsgesellschaftlich bei vielen nur zur Hemmung menschenverachtenden Gedankenguts, nicht aber zur Selbstreflexion geführt hat. Zusätzlich wird damit weniger suggeriert, dass die Gesellschaft seit der Niederschlagung des NS-Regimes und spätestens seit den 68ern “weg von rechts” gerückt gewesen sei. Viele haben die Ereignisse der 90er Jahre vergessen. Gelernt haben wohl die wenigsten daraus. Hoffen wir, dass uns das nicht zum Verhängnis wird.

Literatur

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Bundesauslaenderbeauftragte.de: “Einbürgerung in Deutschland”. http://www.bundesauslaenderbeauftragte.de/einbuergerung.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.

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Zick, Andreas; Klein, Anna: Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Hrsg. von Ralf Melzer. Bonn: J. H. W. Dietz 2014.

Empfehlungen

Schwarzes Empowerment und Deutscher Rassismus

Der braune Mob e.V. (https://www.derbraunemob.de/)

Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (isdonline.de)

ADEFRA e. V. – Schwarze Frauen in Deutschland (http://www.adefra.de/)

Forschungsgesellschaft Flucht & Migration e. V. (https://ffm-online.org/)

Culture of Deportation (http://cultureofdeportation.org/)

Kampagne „Ban racial profiling. Gefährliche Orte abschaffen“ (http://www.polizei-gewalt.com)

Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (https://kop-berlin.de)

Kampagne „Integration nein Danke“ (https://integrationneindanke.wordpress.com)

Materialen für rassismus- und herrschaftskritisches Handeln (www.mangoes-and-bullets.org)

Das Migazin (http://www.migazin.de/)

Anne Chebu: Anleitung zum Schwarzsein.

Noah Sow: Deutschland Schwarz-Weiß. Der alltägliche Rassismus

Katharina Oguntoye, May Opitz, Dagmar Schultz (Hrsg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte.

NSU und extrem rechter Terror

NSU-Watch (www.nsu-watch.info)

Tribunal NSU-Komplex auflösen (www.nsu-tribunal.de)

Amadeu-Antonio-Stiftung (www.amadeu-antonio-stiftung.de)

Sebastian Friedrich, Regina Wamper, Jens Zimmermann (Hrsg.): Der NSU in bester Gesellschafft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat

  1. Vgl. Lobenstein, Caterina und Lau, Mariam: “Oder soll man es lassen? Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra” (2018). https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  2. Riegen, Marc-Oliver von: “Rechtsruck in Deutschland? Ausländerfeindlichkeit nimmt zu” (2010). https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/rechtsruck-in-deutschland–auslaenderfeindlichkeit-nimmt-zu-3530342.html, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  3. Tatsächlich wird eine Assimilation ja auch nur von Menschen gefordert, denen diese nicht möglich ist. Weiße Migrant*innen beispielsweise aus den USA, Schweden, Großbritannien, Frankreich, usw. sehen sich deutlich seltener mit der Forderung nach Assimilation konfrontiert und eine öffentliche Debatte darüber, dass sie sich gefälligst assimilieren sollen, gibt es nicht! Natürlich gibt es aber auch unter weißen Migrant*innen Menschen, die sich der ständigen Forderung nach Assimiliation ausgesetzt sehen: Das sind vor allem Migrant*innen aus Osteuropa, sowie Angehörige marginalisierter Minderheiten, beispielsweise Jüd*innen oder Sinti und Rom*nija. []
  4. Die “Mitte”-Studien werden seit 2002 alle zwei Jahre durchgeführt und untersuchen autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Vgl. Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Brähler, Elmar (Hrsg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger “Mitte”-Studie 2016. Gießen: Psychosozial-Verlag 2016. []
  5. Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 14. []
  6. Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 7f. []
  7. Vgl. Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 20. []
  8. #metwo ist ein Hashtag auf Twitter, über den Menschen ihre Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland erzählen. []
  9. “Reverse racism” bezeichnet die Kritik Weißer an Schwarzen antirassistischen Initiativen und Kritiken als Rassismus gegenüber Weißen. Vgl. Wikipedia: “Reverse racism”. https://en.wikipedia.org/wiki/Reverse_racism, letzter Zugriff: 01.09.2018 und Fabello, Melissa A.: “Why reverse oppression can’t exist” (2015). https://everydayfeminism.com/2015/01/reverse-oppression-cant-exist/, letzter Zugriff: 01.09.2018.. Bestes Beispiel für Positionen, die “reverse racism” unterstellen, ist der Artikel “#MeTwo-Debatte. Hauptsache, ihr favt meine Tweets” vom Rassisten Jan Fleischhauer. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/metwo-debatte-hauptsache-ihr-favt-meine-tweets-a-1221348.html, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  10. Vgl. u. a. Fleischhauer, Jan: “#MeTwo-Debatte. Hauptsache, ihr favt meine Tweets” (2018). http://www.spiegel.de/politik/deutschland/metwo-debatte-hauptsache-ihr-favt-meine-tweets-a-1221348.html, letzter Zugriff: 01.09.2018, und Zeit Online: “#MeTwo-Debatte. Christian Lindner findet Alltagsrassismus-Debatte zu einseitig” (2018). https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-08/metwo-rassismus-deutschland-reaktionen-christian-lindner, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  11. Vgl. u. a. Raecke, Daniel: “Die Abwehr steht. “Rassismus” in der öffentlichen Debatte” (2018). http://www.spiegel.de/sport/fussball/rassismus-keule-und-andere-sprechverbote-toni-kroos-und-mesut-oezil-a-1223549.html, letzter Zugriff: 01.09.2018, Welt: “Nicht alle Deutschen sind rassistisch” (2018). https://www.welt.de/politik/deutschland/article180566414/Lady-Bitch-Ray-Nicht-alle-Deutschen-sind-rassistisch.html, letzter Zugriff: 01.09.2018, Kreiszeitung: “Funkstille nach Özil-Rücktritt: Jetzt äußert sich Löw – auch zum Rassismus-Vorwurf” (2018), https://www.kreiszeitung.de/sport/fussball/mesut-oezil-jogi-loew-aeussert-sich-zu-ruecktritt-und-rassismus-vorwuerfen-zr-10143391.html, letzter Zugriff: 29.08.2018 uvm. []
  12. Eine Aufzählung von antirassistischen Inititativen und Publikationen findest du am Ende der Seite. []
  13. Raecke, Daniel: “Die Abwehr steht. “Rassismus” in der öffentlichen Debatte” (2018). http://www.spiegel.de/sport/fussball/rassismus-keule-und-andere-sprechverbote-toni-kroos-und-mesut-oezil-a-1223549.html, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  14. Vgl. Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 15f. []
  15. Vgl. Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Bd. 1-10. Frankfurt am Main, Berlin: Suhrkamp 2002-2012, Decker et al.: Die enthemmte Mitte, Zick, Andreas; Klein, Anna: Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Hrsg. von Ralf Melzer. Bonn: J. H. W. Dietz 2014. []
  16. Vgl. Melzer: Fragile Mitte – Feindselige Zustände S. 83. []
  17. Birthright lottery: Begriff von Ayelet Shachar, “Wink des Schicksals, der den einen qua Geburt einen privilegierten Status verleiht, während er andere von Beginn an in eine benachteiligte Position bringt”, Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. München: Hanser Berlin, 2016, S. 145. []
  18. Lessenich: Neben uns die Sintflut S. 145f. []
  19. Mehr dazu in Fußnote 39. []
  20. Vgl. Fekete, Liz: “Why the NSU case matters. Structural racism and covert policing in Europe”. Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Hrsg. von Sebastian Friedrich, Regina Wamper und Jens Zimmermann. Münster: Unrast 2015. 49-64, S. 53. []
  21. Vgl. Fekete, Liz: Why the NSU case matters. []
  22. Zum NSU-Komplex findet sich am Ende der Seite eine Liste mit Inernetadressen und Leküreempfehlungen. []
  23. Vgl. Cremer, Hendrik: “Racial Profiling” – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundespolizeigesetz. Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte 2013. []
  24. Vgl. Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus. München: Goldmann 2009. []
  25. Cremer, Hendrik: ““Racial Profiling”: Eine menschenrechtswidrige Praxis” (2014). https://www.boell.de/de/2014/10/22/racial-profiling-eine-menschenrechtswidrige-praxis, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  26. Vgl. Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. []
  27. Vgl. die Berichterstattung der SZ, FAZ, Welt, Bild und anderen zu den Pogromen in Chemnitz. []
  28. Landeskriminalamt Baden-Württemberg (LKA-BW) (Autor: KHK Udo Haßmann): Gesamtanalyse der bundesweiten Serie von Tötungsdelikten an Kleingewerbetreibenden mit Migrationshintergrund, o.O. (Stuttgart), o.J. (30.1.2007). Zitiert in: Tribunal ‘NSU-Komplex auflösen’: “Der instituionelle Rassismus bei den Ermittlungen und die Kriminalisierung der Betroffenenen”. http://www.nsu-tribunal.de/unsere-anklage-der-institutionelle-rassismus, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  29. Vgl. Brausam, Anna: “Todesopfer rechter Gewalt seit 1990”. http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer-rechter-gewalt/, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  30. Folgendes Kapitel bezieht sich insbesondere aus Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München: Beck 2014 und Jäger, Margarete: “Skandal und doch normal. Verschiebungen und Kontinuitäten rassistischer Deutungsmuster im deutschen Einwanderungsdiskurs.” Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Hrsg. von Sebastian Friedrich, Regina Wamper und Jens Zimmermann. Münster: Unrast 2015. 30-48. []
  31. Aufgrund von Arbeitskräftemangel wurden 1955-1973 Menschen aus dem Ausland als Arbeitskräfte angeworben, jedoch mit der Erwartung, dass diese die BRD wieder verlassen, sobald sie als Arbeitskräfte nicht mehr “gebraucht” würden. Stattdessen siedelten sich viele in der BRD an und holten ihre Familien nach. []
  32. Vgl. Jäger, Margarete: Skandal und doch normal S. 36. []
  33. Vgl. Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert S. 1173. []
  34. Vgl. Decker et al., Die enthemmte Mitte S. 15. []
  35. Vgl. Wikipedia: “Russlanddeutsche”, https://de.wikipedia.org/wiki/Russlanddeutsche, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  36. Vgl. Decker et al., Die enthemmte Mitte S. 15. []
  37. Vgl. Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert S. 1178 und “Der NSU im Netz von Blood & Honour und Combat 18”. Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Hrsg. von Sebastian Friedrich, Regina Wamper und Jens Zimmermann. Münster: Unrast 2015. 11-29. []
  38. Vgl. Andreasch, Robert: “Vom Penzberger Rathaus bis zum Münchner Olympia-Einkaufszentrum. Rechte Attentate in Bayern”. Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945. Hrsg. von Winfried Nerdinger, Mirjana Grdanjski und Ulla-Britta Vollhardt. München: NS-Dokumentationszentrum, 2017. 63-73, S. 67 ff. []
  39. Aktuell ist es auf folgendem Weg möglich, die deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten: 1. Wenn mindestens ein Elternteil deutsche*r Staatsbürger*in ist – diese Kinder dürfen ihr Leben lang eine doppelte Staatsbürger*innenschaft behalten–, 2. wenn Kinder von nichtdeutschen Eltern auf deutschem Boden geboren werden, solange die Eltern bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllen – diese Kinder müssen sich mit 18 für eine Nationalität entscheiden– oder 3. durch Einbürgerung, bei der einiges an Hürden wie dem Einbürgerungstest und einem Deutschtest bewältigt werden müssen und die Person weder Sozialhilfe erhalten noch vorbestraft sein darf und mindestens acht Jahre in Deutschland leben muss. Vgl. Bundesauslaenderbeauftragte.de: “Einbürgerung in Deutschland”. http://www.bundesauslaenderbeauftragte.de/einbuergerung.html, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  40. Vgl. VVN-BdA Kreisverband Augsburg: “Staatsbürgerschaftsrecht in Deutschland – eine Übersicht über die letzten 100 Jahre” (2007). http://vvn-augsburg.de/1a_jahrestage/texte/staatsbuergerschaftsrecht2007.pdf, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  41. Vgl. Jäger, Margarete: Skandal und doch normal S. 41ff. []
  42. Reinfrank, Timo; Brausam, Anna: “Rechter Terror gegen Flüchtlinge – Die Rückkehr der rechten Gewalt der 1990er Jahre”. Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger “Mitte”-Studie 2016. Hrsg. von Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler. Gießen: Psychosozial-Verlag 2016. 235-243. S. 236. []
  43. Vgl. Zicht, Wilkow; Cantow, Matthias: “Sonntagsfrage Bundestagswahl”. http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm, letzter Zugriff: 01.09.2018. []
  44. Wobei auch heute schon davon gesprochen werden kann, dass die CSU in Bayern die gleiche Politik betreibt, die die AfD propagiert. []
  45. Vgl. die Berichterstattung zu den Pogromen in Chemnitz. []

Ein Fötus ist (k)ein Zellhaufen! – Plädoyer für eine differenzierte Sicht auf Schwangerschaftsabbrüche

Dieser Artikel wurde im Juli 2017 zuerst bei der Antisexistischen Aktion München veröffentlicht. Eine überarbeitete Version erschien im Oktober 2018 im anarchafeministischen Magazin Nebenwidersprüche.

Singend und betend ziehen sogenannte „Lebensschützer*innen“ durch die Städte, postieren sich singend und betend vor Abtreibungskliniken und Beratungsstellen und treiben Mitarbeitende, Beratung suchende Personen sowie Personen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen wollen, in den Wahnsinn. Sie werfen ihnen „Kindsmord“ vor, sprechen von „Massentötungen“, von „Orten des Tötens“. Auch wenn ihre Protestform skurill ist, ihre Methoden den Schwangeren gegenüber emotionale Erpressung, ihre Worte drastisch, ihre Vergleiche (zum Beispiel mit dem Holocaust) morbide und ihre Begründungen aus antireligiöser wie agnostischer und atheistischer Perspektive absurd, so erinnern sie doch an die Zweifel, die jede Überlegung zu Schwangerschaftsabbrüchen begleitet. Handelt es sich bei einem Schwangerschaftsabbruch um ein „Kind“, das aus der Gebärmutter geholt wird? Ist eine Abtreibung dementsprechend ein „Mord“? Hat eine schwangere Person das Recht verwirkt, über ihren Körper zu bestimmen und eine Schwangerschaft abzubrechen, wenn sie diese nicht möchte?

Schwangerschaftsabbruchs-Gegner*innen wie Befürworter*innen gehen wegen dieser Fragen auf die Barrikaden. Befürworter*innen sagen „nein“, kein Kind, kein Mord und volle Selbstbestimmung über den eigenen Körper. „Ein Fötus ist nur ein Zellhaufen“, so wird provokant auf (christlich- fundamentalistische) Abtreibungsgegner*innen reagiert. Doch ist das die richtige Antwort auf deren Kritik? Die Worte von sogenannten „Lebensschützer*innen“ einfach ins Gegenteil zu verkehren, „Kind“ durch „Zellhaufen“ zu ersetzen, Schwangerschaftsabbruch von einem „Verbrechen“ zu einem fundamentalen „Frauen*-/Menschenrecht“ zu erklären, also quasi vor die ganze Gleichung ein Minus zu setzen und ethische Bedenken beiseitezuwischen? Nein, diese Antwort versperrt die Möglichkeit eines differenzierten Blicks auf Schwangerschaftsabbrüche und einer gänzlich anders gelagerten Kritik gegenüber „Lebensschützer*innen“.

Was nicht geleugnet werden kann und wo den Schwangerschaftsabbruch-Gegner*innen Recht gegeben werden muss, ist, dass Schwangerschaftsabbrüche ethisch nicht unbedenklich sind. Schließlich wird sich tatsächlich dagegen entschieden, eine bereits befruchtete Eizelle auszutragen und zu einem Kind wachsen lassen. Natürlich kann ich behaupten, dass ein Kind erst mit Vollendung der Geburt zum Kind wird. Genauso kann ich behaupten, das Kind sei ab der Verschmelzung von Samen- und Eizelle bereits ein Kind. Die berühmte „Paradoxie des Haufens“: Ab wieviel aufeinander gestapelten Sandkörnern werden einzelne Sandkörner zum Haufen? Zwei? Drei? Fünf? Wie wäre es, statt dieser nicht beantwortbaren Frage einen anderen Blick auf das Thema Schwangerschaftsabbruch zu werfen?

Eine zentrale Forderung von Feminist*innen und Antisexist*innen ist die nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Aber was heißt „Selbstbestimmung“? Wie „selbstbestimmt“ kann ein Mensch sein, wenn die Vorstellung, ein Kind, das eine Behinderung haben wird, auszutragen und großzuziehen, zu einer solchen Überforderung führt, dass ein Schwangerschaftsabbruch der einfachere Weg zu sein scheint? Sind hier die gesellschaftlichen Normvorstellungen, dass ein Kind „Hauptsache gesund“ zur Welt kommen soll, die damit einhergehende Enttäuschung und Angst vor den Blicken der anderen, die „normale Kinder“ gezeugt haben, nicht alles andere als Selbstbestimmung? Oder die Person, die über eine Abtreibung nachdenkt, weil sie sich finanziell selber kaum über Wasser halten kann und*oder psychische/physische Probleme hat und*oder keine Familie hat, die sie unterstützen könnte, und*oder eine*n Partner*in, der*die ebenso Schwierigkeiten hat oder auch nicht existent ist? Oder die, die 14 Jahre alt ist und bisher nicht einmal für sich selbst sorgen musste? Oder die Person, die Opfer sexueller Gewalt geworden und dadurch schwanger ist, und bei der jeder Gedanke an das Kind triggernd wirkt? Oder diejenige, die von Abschiebung bedroht ist? Alles Menschen, die sich durch äußere Umstände nicht dazu in der Lage fühlen oder es faktisch nicht sind, sich um ein Kind zu kümmern. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Was dabei deutlich wird: Schwangerschaftsabbrüche haben etwas mit den Mitmenschen zu tun. Beziehungsweise mit ihrer Abwesenheit. Und damit mit Isolation.

Eins der zentralen Probleme bei all diesen Situationen ist, dass von schwangeren Personen erwartet wird, dass sie allein in erster und letzter Instanz für das Kind verantwortlich sind. Im Zweifelsfall – Partner*in gibt es nicht (mehr), die Eltern oder andere Familienangehörige wenden sich ab oder gibt es nicht – bleibt die Fürsorge des Kindes an der schwangeren Person hängen. Alleine. Damit wird ein Kind zu einer enormen Einschränkung und Belastung in der Gestaltung des eigenen Lebens bis hin zur vollkommenen Überforderung und – gefühlten oder tatsächlichen – Unmöglichkeit, es aufzuziehen. Die Rolle der biologischen Mutter* wird dermaßen überhöht – als wichtigster Bezugspunkt und „perfekte“ Versorgungsinstanz eines Kindes –, dass viele Menschen an diesen Erwartungen scheitern (müssen). Auch wenn es die Möglichkeit gibt, ein Kind zur Adoption frei- oder in eine Pflegefamilie zu geben, so wird die schwangere Person immer die bleiben, die ihr Kind im Stich gelassen hat – sehr viel mehr als der schwängernde Part – und das Kind wird immer das sein, das unerwünscht war und dessen Mutter* es im Stich gelassen hat. Dadurch, dass ein Kind die Verantwortung einer statt vieler Personen ist, dass die Umstände „passen“ müssen, damit eine Schwangerschaft nicht zum Desaster wird – im besten Fall Ehe, Eigenheim und festen Job mit genügend Kohle –, ist es verständlich und zwangsläufig, wenn der einzige Ausweg aus dem Dilemma der nicht passenden Umstände der zu sein scheint, den „Fremdkörper“, der das Leben der betroffenen Person zerstören wird, möglichst schnell und heimlich, bevor es andere mitbekommen, loszuwerden. Wenn es dann dafür keine professionellen Strukturen wie Ärzt*innen, Beratungsstellen etc. dafür gibt, dann wird es halt mithilfe kreativer und häufig gefährlicher bis für die schwangere Person tödlicher Ideen entfernt, oder direkt nach der Geburt getötet. Deswegen sind diese Strukturen so wichtig.

Schwangerschaftsabbrüche wird es immer geben. Auch in einer idealen Gesellschaft, in der all die Situationen, wie ich sie oben geschildert habe, nicht mehr vorkämen, wird es medizinisch notwendige Abtreibungen geben. Denn warum sollte das Leben des Kindes mehr wiegen als das der biologischen Mutter*? Auch ganz ohne menschliche Einmischung kommt es zu Fehlgeburten, wenn es beim Schwangerschaftsprozess Komplikationen gibt. Kinder zu idealisieren und zu überhöhen auf Kosten des leiblichen wie auch psychischen Wohlergehens der biologischen Mutter* – dessen Missachtung zu ihrem* Tod führen kann – ist nicht mit einem ethischen Modell, das allen Menschen gleiche Rechte zuspricht, vereinbar.

Trotzdem sind Schwangerschaftsabbrüche nicht zu verharmlosen und sicher nicht zu verherrlichen, und das Recht darauf, die Schwangerschaft abbrechen zu können, eigentlich nicht einmal als emanzipatorischer Durchbruch zu feiern. Die entsprechenden Strukturen zur sicheren Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen und die Entkriminalisierung von abtreibenden Personen – was bisher in Deutschland dank § 218 StGB immer noch nicht geschehen ist – sind notwendige Schadensbegrenzungen in einer Gesellschaft, die Schwangerschaft als das Problem der schwangeren Person ansieht und überhaupt als „Problem“ – mit Ausnahme der geschilderten „perfekten“ Lebenssituation. In einer Gesellschaft, die die Kleinfamilie überhöht und biologische Blutsbande – mensch ist versucht, hier das Wort „rassisch“ zu verwenden – zum Kern einer Solidarstruktur von Menschen erklärt. Die Verwandten sind zur Unterstützung da. Pech, wenn ihr euch nicht versteht oder wenn du keine hast! Pech, wenn du keine*n Partner*in hast, die*der sich mit dir um dieses Kind kümmert, auch wenn er*sie es vielleicht sogar mitgezeugt hat. Ich plädiere nicht dafür, dass Kinder keine feste(n) Bezugsperson(en) mehr haben sollen. Ich plädiere aber dafür, dass diese unabhängig von Verwandtschaftsgraden – Rasse? – ausgewählt werden können, dass das Leben in Kleinfamilien ersetzt wird durch das Leben in Kommunen (oder Wohngemeinschaften, welches Wort auch immer weniger „gefährlich“ klingt), dass also für eine schwangere Person sich nicht die Perspektive zwischen Schwangerschaftsabbruch und vollständiger Isolation auftun muss. Dass eine Person, die sich um ein Kind nicht kümmern kann, aber halt schwanger ist, sich nicht darum kümmern muss. Dass sie und das Kind aufgefangen werden und nicht Diskriminierung, Tratsch, Mitleid oder sonstigen ausschließenden Reaktionen anderer Menschen ausgesetzt sind, dass die eine als „schlechte Mutter*“ und das andere als „ungeliebtes Kind“ abgestempelt werden. Damit eine solche – befreite – Gesellschaft eines Tages möglich wird, muss sie noch mit viel mehr Strukturen und Vorstellungen brechen, die auszuführen leider den Rahmen dieses Artikels sprengen würden. (1)

Eine solche ideale Gesellschaft würde Schwangerschaftsabbrüche, aus medizinischen wie auch aus anderen Gründen, trotzdem nicht verhindern – das ist auch nicht das Ziel. Den Wunsch einer schwangeren Person, diese Schwangerschaft nicht durchlaufen zu müssen, ernst zu nehmen und ihr die die Erfüllung dieses Wunsches zu ermöglichen, ist essenziell für ein solidarisches Miteinander. Doch für keinen Menschen ist die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch eine leichte. Und viele dieser Entscheidungen sind gesellschaftlich bedingt. Sie entpuppen sich als ein verzweifeltes Verhindern der gesellschaftlichen Konsequenzen einer Schwangerschaft „zum falschen Zeitpunkt“ oder „unter den falschen Umständen“. Diese gesellschaftlichen Strukturen, die zu Isolation und auch zu gravierenden Schäden für Kind wie Mutter* führen können, gilt es zu kritisieren und zu bekämpfen. In keinster Weise soll das Engagement für eine Abschaffung des § 218 und für die Einrichtung von Strukturen zum Schwangerschaftsabbruch abgelehnt werden. Doch der Ruf nach Selbstbestimmung durch Feminist*innen und Antisexist*innen greift zu kurz.

Damit kommen wir zurück zu den (christlich-fundamentalistischen) Schwangerschaftsabbruchs- Gegner*innen. Sie haben nicht ganz Unrecht mit ihren ethischen Bedenken, jedoch aus den falschen Gründen (2). Sie richten sich gegen die Falschen. Sie kriminalisieren und verurteilen die schwangeren Menschen, die zumeist Opfer gesellschaftlich repressiver Strukturen sind, statt genau diese zu kritisieren. Sie üben heftigen Druck durch miese psychologische Tricks – wie das Verteilen von Plastikföten – auf die Menschen aus, die eh schon verzweifelt sind. Zusätzlich sind sie Teil dieser gesellschaftlichen Strukturen, die häufig erst den Wunsch nach einem Abbruch hervorrufen. Sie vertreten ein repressives heteronormatives – rassisches? – Kleinfamilienbild, propagieren ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper und die Unterdrückung der eigenen Sexualität. Sie sind heutzutage vielleicht nur noch ein Randphänomen. Doch sie sind (skurilles) Symptom viel weiter verbreiteter und tief sitzender Vorstellungen und Erwartungen. Sich ihnen vor Abtreibungskliniken und vor Beratungsstellen entgegenzustellen, ist wichtig, um die Schwangeren vor diesem zusätzlichen Druck zu beschützen und die erkämpften Rechte zu verteidigen. Sie zu kritisieren geht auch ohne Verharmlosung der unterschiedlichen Dimensionen eines Schwangerschaftsabbruchs. Eine radikal antisexistische und feministische Perspektive darf jedoch nicht bei der Schadensbegrenzung stehen bleiben, sondern muss die Gesellschaft als Ganzes fundamental in Frage stellen und bekämpfen.

(1) Als Beispiele seien der Tausch- und Eigentumsgedanke, der des egoistischen Wesens des Menschens, Arbeit oder Geld genannt.

(2) Zum Beispiel, dass ein Schwangerschaftsabbruch eine Sünde sei, weil der Mensch „ein Geschöpf Gottes“ sei und damit jede befruchtete Eizelle auch eins, und ja, deswegen nicht „umgebracht“ werden dürfe. (vgl. z. B. http://www.kostbare-kinder.de/, um einen Eindruck christlich-fundamentalistischer Argumentationen zu bekommen). Eine ausführliche (christlich- fundamentalistische) Religionskritik würde leider ebenfalls den Rahmen dieses Artikels sprengen.